Im Netz der Angst
ihren eigenen.
Aimee lenkte Marian ab, indem sie ihr Fragen zu den gerahmten Fotos im Flur stellte, der zu den Schlafzimmern führte. Einige von ihnen zeigten Orrin Dawkin und einen gut aussehenden, hochgewachsenen Mann mit dichtem strohblondem Haar. Auf einem Foto waren sie beide in voller Fallschirmmontur abgebildet, auf einem anderen in Taucherausrüstung. Ein drittes Bild zeigte sie beim Klettern an einem steilen Felshang.
»Wer ist dieser Mann, mit dem Orrin auf all den Fotos zu sehen ist? Sein Bruder?«, wollte Aimee wissen.
Marian schüttelte den Kopf und lächelte schwach, obwohl sich bereits wieder neue Tränen in ihren Augen sammelten. »Nein. Das ist nicht sein Bruder. Obwohl er es sein könnte – so nahe, wie sie sich standen. Das ist Carl Walter, Orrins Geschäftspartner.«
»Ganz schöne Abenteurer, die beiden, was?«, fragte Aimee, dann zuckte sie zusammen. Orrin würde keinerlei Abenteuer mehr erleben. Seine Zukunft war wie er selbst mit nur einem einzigen Schlag ausgelöscht worden.
»So haben sie sich auch kennengelernt«, sagte Marian. »Auf einem Abenteuertrip in die Wüste. Vorher hat Orrin solche Reisen immer allein unternommen. Stacey war nie besonders risikofreudig, aber für Orrin waren solche Erlebnisse das Größte. Sie und Orrin waren wohl ein gutes Beispiel dafür, dass Gegensätze sich anziehen. Jedenfalls traf er Carl, und die beiden waren sofort auf einer Wellenlänge. Ungefähr ein Jahr später wurde dann die gemeinsame Geschäftsidee geboren.«
»Wie alt war Taylor auf diesem Foto hier?« Eine verschmitzt dreinschauende Taylor mit zwei Zöpfen stand auf einer Picknickbank und zog eine Grimasse für die Kamera. Kaum vorstellbar, dass ihre schwermütige junge Patientin dort mit Jeansshirts und gebatiktem T-Shirt posierte.
»Mal überlegen. Das war der Sommer, in dem wir alle zusammen zum Mount Lassen rausgefahren sind.« Marian schloss kurz die Augen. »Da waren sie gerade erst hierhergezogen. Taylor mag vielleicht sieben Jahre alt gewesen sein? Oder acht?«
Dieses Strahlen in Taylors Augen hatte Aimee während der gesamten Behandlung nicht ein einziges Mal gesehen. »Sie macht einen glücklichen Eindruck.«
Marian lächelte. »Damals war sie das auch. Erst später hat sich das geändert.«
»Viel später?«
Es war immer spannend, wenn sich neue Blickwinkel eröffneten. Denn häufig blieben Patienten während der Therapie nicht ganz bei der Wahrheit, so unsinnig das auch sein mochte. Noch häufiger waren die Patienten sich selbst gegenüber nicht ganz ehrlich. Sie logen nicht direkt, beschönigten aber gewisse Dinge, um selbst besser, ehrlicher oder heldenhafter dazustehen. Die Perspektive eines anderen Menschen ermöglichte Aimee, eine andere Wahrheit zu entdecken – oder sich überhaupt so etwas wie einer Wahrheit anzunähern.
»Gar nicht so lange danach«, murmelte Marian gedankenverloren. Sie runzelte die Stirn. »Vielleicht ein Jahr später.«
Aimees Kopf schoss in die Höhe. Sie hatte einen wesentlich kürzer zurückliegenden Einschnitt erwartet und keine Verhaltensveränderung mit sieben oder acht Jahren. Weder die Dawkins noch Taylor hatten je etwas in dieser Richtung erwähnt. »Tatsächlich? Was ist damals passiert?«
Marian schüttelte den Kopf. »Das habe ich nie herausgefunden. Vielleicht lag es an dem Umzug. Für ein Kind kann so etwas sehr schwierig sein.«
»Aber es klingt so, als hätte die Veränderung erst einige Zeit nach dem Umzug eingesetzt.« Aimee wandte sich wieder der Fotografie zu und ihr Verstand lief auf Hochtouren. »Wie genau hat sich Taylors Wesenswandel bemerkbar gemacht?«
Marian kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Sie wurde verschlossener. Und plötzlich furchtbar anhänglich. Wollte Staceys Beine gar nicht mehr loslassen. Ein paar Mal hat sie sogar ins Bett gemacht.« Marian errötete, offensichtlich hatte sie das Gefühl, allzu Vertrauliches auszuplaudern. »Stacey sprach nicht gern darüber. Sie war besorgt, tat aber so, als sei alles in Ordnung. Wahrscheinlich dachte sie, das würde sich wieder einrenken. Orrin war nie besonders mitfühlend, wenn jemand Schwäche zeigte. Er war ein so starker Mann. Stets selbstsicher. Er konnte nicht immer nachvollziehen, wenn andere Menschen nicht auch so waren.«
Aimees Nackenhaare richteten sich auf. Klarere Anzeichen dafür, dass ein Kind traumatisiert war, gab es kaum. Wieder in kindliche Verhaltensweisen zurückzufallen, war ein klassisches Symptom. Sie musste unbedingt noch einmal in
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