Im Netz der Meister 2
fühlte sich alt und müde.
Als sie am Chlodwigplatz aus der Straßenbahn stieg und an der Fußgängerampel an der Kölnstraße warten musste, beachtete sie die großen Zettel an den Laternenpfählen nicht. Dauernd hingen dort irgendwelche Aufrufe, Wohnungsgesuche oder Steckbriefe entlaufener Katzen und Hunde.
Die Frau vom Kiosk erwiderte ihr »Hallo!« nicht.
Ihr Winken am Fenster des kleinen Friseursalons blieb von den beiden Damen drinnen heute offenbar unbemerkt.
Tini, die Verkäuferin der Bäckerei, stand in der Tür und sah Simone kommen. Sie blieb nicht wie sonst stehen, um ein paar Worte mit Simone zu wechseln. Tini verschwand rasch im Laden, drehte der Tür den Rücken zu und machte sich konzentriert an den Broten im Regal zu schaffen.
Als die alte Frau Ritter ihr begegnete und abrupt den Kopf wegdrehte, als Simone sie grüßte, wurde sie immer noch nicht stutzig. Sie kannte die Kundin schon seit Jahren und wusste, dass sie manchmal komisch sein konnte.
An der Ecke zur Georgstraße stieß sie fast mit dem Briefträger zusammen. »Herr Winkler, waren Sie schon bei mir? Ich hab verschlafen, stellen Sie sich das vor, zum ersten Mal in all den Jahren, haben Sie mir die Post unter der Tür durchgeschoben?«
Herr Winkler wurde rot und stammelte etwas, das Simone nicht verstand. Sie hörte kaum hin, eilte weiter und kramte dabei den Ladenschlüssel aus der Handtasche. Als sie vor dem Schaufenster stand und den Kopf hob, stutzte sie.
Die Tasche rutschte ihr aus der Hand.
Der Schlüssel fiel auf den Bürgersteig.
Ihr Herz explodierte fast.
Sie hielt sich den Mund zu und griff an ihren Hals.
Sie starrte sekundenlang wie gelähmt auf die Poster, die am Schaufenster klebten und es fast vollständig bedeckten. Sie schrie, als sie mit zwei Schritten an der Scheibe war und die entsetzlichen Bilder abriss. Eins, zwei, sieben, zehn, noch eins, und das, und hier, oh nein, oh nein, oh nein!
Sie zerknüllte sie und trampelte darauf herum; wie eine Irre sprang sie hoch, um auch an die oberen Scheißdinger heranzukommen, sie schrie und heulte und jammerte, und als sie alle Poster zu einem Haufen zerrissener, zerknüllter Fetzen getrampelt hatte, versuchte sie, die Tür aufzuschließen. Sie zitterte so sehr, dass der Schlüssel zweimal runterfiel, bevor sie es schaffte. Panisch trug sie den Müll hinein, warf ihn in den Papierkorb, zu klein, es passte nicht alles rein, sie trat in den Eimer, stampfte darin herum, drückte die Knäuel mit der Hand runter, ließ es dann doch sein, rannte stolpernd ins Hinterzimmer, riss einen Plastiksack aus dem Regal und stopfte und stopfte und stopfte. »Nein!« wimmerte sie, immer wieder. »Nein!«
Dann überlegte sie es sich anders und lief mit dem vollen Müllbeutel zur Toilette. Einen Arm voll warf sie in die Kloschüssel, rannte in den Laden, suchte ein Feuerzeug, lief zur Ladentür, schloss sich ein, hastete zurück zum Klo und verbrannte das elende Zeug.
Sie erinnerte sich später nicht, wie lange sie reglos hinter dem Tresen gesessen und nach draußen gestarrt hatte. Die ganze Zeit sah sie den hellen Zettel an der Laterne vor dem Haus. Sie wusste, dass es so einer war, einer von denen.
Sie waren im ganzen Stadtviertel verteilt. An Bäumen, Ampeln, Hauswänden und Laternenpfählen hingen die Bilder. Sie waren von schlechter Qualität, aber man konnte dennoch alles erkennen. Sie zeigten Simone in einem von Fackeln beleuchteten Kellergewölbe. Sie zeigten sie in einem Moment, als sie sichtbar betrunken in High Heels und Strapsen breitbeinig über dem Gesicht einer nackten Frau hockte.
Sie dachte später oft darüber nach, warum sie die Bilder nicht einfach überall abgerissen hatte. Sie hätte den Laden abschließen und die Plakate einsammeln können. Vielleicht hätte sie sogar alle gefunden. Sie konnte sich kaum erklären, warum sie stundenlang wie gelähmt dagesessen hatte. Sie ignorierte das Klingeln des Telefons. Sie fuhr den Rechner nicht hoch. Sie ging nicht ans Handy und beantwortete keine SMS. Sie öffnete die Post nicht. Sie saß nur da und starrte hinaus und wunderte sich manchmal, wieso das Leben draußen vor dem Fenster einfach so weitergehen konnte.
Darüber, wer das getan hatte, dachte sie zuerst nicht nach. Erst nach ein paar Tagen, als sie wieder im Forum las, kam ihr der erste Verdacht. Simone erinnerte sich an Sklavin Gabi, die ihr vom virtuellen Herr-Scheißkerl-Fanclub erzählt hatte. Scheißkerl und Anna hatten sich als Freunde verlinkt. Scheißkerl
Weitere Kostenlose Bücher