Im Netz der Meister 2
Wimperntusche verklebt, der Geschmack in ihrem Mund ranzig. Sie wusste nicht mehr, wie sie ins Bett gekommen war, konnte sich an den Heimweg nicht erinnern, nicht an den Abschied von Anita und den anderen Gästen, eigentlich an nichts mehr, was nach dem tollpatschigen Sturz über Anitas Gesicht passiert war.
Sie linste durch ihre verklebten Wimpern: Geralds Bett war leer. Der Wecker zeigte 15:15 Uhr. Simone sprang auf. Wieso war es schon Nachmittag? Was für ein Tag war heute?
Sie ging ins Bad. Dass sie sich nicht abgeschminkt hatte, war ein untrügliches Indiz für Vollrausch. Sie putzte sich gründlich die Zähne und duschte lange, aber der hämmernde Kopfschmerz ließ nicht nach.
Gerald saß in der Küche und las Zeitung. Es war sehr still im Haus; die Mädchen schienen nicht da zu sein, jedenfalls war keine Musik zu hören, auch kein Fernseher irgendwo. Nur die Küchenuhr tickte, und aus der Thermoskanne auf dem Tisch zischte leises Blubbern.
Das Geräusch, als Simone den Stuhl auf dem Granitfliesenboden zurückzog, ließ sie zusammenzucken. Sie redeten leise, in abgehackten Sätzen.
Ja, sie sei sehr betrunken gewesen.
Ja, er habe sie zum Taxi getragen.
Ja, er habe sie ins Schlafzimmer geschleppt und ausgezogen.
Nein, sie habe nicht gekotzt.
»Was ist mit dir? Du bist so komisch.«
Gerald antwortete nicht sofort. Dann sagte er, viel später, als habe er lange nach den folgenden Worten gesucht: »Mir gefällt diese SM-Szene nicht, Simone. Ich war noch nicht oft auf diesen Partys, aber ich will auch nicht mehr hin. Alle Leute, die ich bis jetzt kennen gelernt habe, hatten einen an der Waffel.«
Er zählte auf: »Die beiden, die wir Hamburg getroffen haben, waren nett, aber das war alles bloß aufgesetzt, und sie waren unappetitlich. « Anna ist eine geisteskranke Stalkerin und ihr Typ ein geltungssüchtiger Gernegroß. Im Forum streiten sie sich über den Diebstahl von Gästebucheinträgen und darüber, wer echten SM lebt und wer es falsch macht. Diese Anita wollte sich von dir in den Mund pinkeln lassen, pfui Teufel! Die kannte dich nicht mal. Und dann hab ich über diesen Herrn Scheißkerl nachgedacht. Total krank, der Typ. Überleg dir mal, was für gefährliche Spinner sich da tummeln! Einer, der Frauen dazu bringt, sich zu verbiegen, nur damit sie so einem Hanswurst gefallen und nicht einsam sind. Der ihnen das Ersparte abschwatzt. Und dann dieses Getratsche! Diese Gabi gestern, die kannte dich auch nicht! Und erzählt dir solche Geschichten. Nee danke, Simone, ich glaube, mein Ausflug in diese Welt war ein Irrtum. Das ist alles nicht echt. Das ist konstruiert und krank. Ich will das nicht.«
Simone fror plötzlich. Im Bruchteil einer Sekunde dachte sie: Was heißt das für mich? Will er sich im HLF abmelden? Geht er nie mehr mit mir auf Partys? Kann ich nie mehr SM haben? Nie mehr mit ihm? Oder gar nicht mehr? Oder meint er, dass nur er aussteigt und ich kann es weitermachen? Will er mich verlassen? Was ist hier los?
Ihre Stimme klang dünn: »Wie meinst du das?«
»Ich meine, dass es ein paar Mal aufregend war, rotblaue Hintern mit Striemen und Blutergüssen und gefesselte Menschen zu sehen. Es war geil, anderen beim Sex zuzugucken, und es war interessant zu erkennen, wie viele Gestörte es gibt. Ich hab weiß Gott alles versucht, um dich zu verstehen und dir zu geben, was du dir wünschst, aber ich kann es nicht.« Dann schlug er plötzlich die Hände vor sein Gesicht und schluchzte laut: »Ich kann es nicht, ich kann es nicht. Es war alles umsonst, ich kann es einfach nicht.«
Simone saß wie erstarrt auf dem Stuhl und umklammerte mit beiden Händen ihre Kaffeetasse. Ihre Knöchel waren weiß. Sie blickte ins Leere, Tränen rannen ihre Wangen hinunter und tropften auf den Küchentisch. Sie hörte das Ticktackticktack der Uhr. Wie eine Zeitbombe , dachte sie. Ihr war, als stünde sie in der Tür und sähe eine traurige Szene aus einem Film. Darin saß eine Frau im Bademantel in einer grauen Designerküche und weinte leise. Der Mann ihr gegenüber weinte laut, er hatte den Kopf in seinen Händen vergraben, sein Rücken zuckte unter seinem Schluchzen, und er sagte immer wieder: »Ich kann es nicht. Ich kann das nicht. Ich kann nicht mehr.« Die Frau konnte ihn nicht trösten. Sie konnte sich selbst nicht trösten. In diesen Minuten fühlte sie, dass etwas für immer vorbei war. Sie fühlten es beide.
Simone verschlief am Montagmorgen und ging fast eine Stunde zu spät aus dem Haus. Sie
Weitere Kostenlose Bücher