Im Netz des Teufels
Erinnerung existierte und der ihm zuerst Angst eingejagt und ihn zermürbt hatte, doch der nun seine Welt geworden war. Er sah, wie die Mauern des Hauses errichtet wurden und wie sie wieder verfielen, gerade noch aus rohem Holz und Mörtel erbaut und im nächsten Augenblick den Elementen, den Bäumen, dem Himmel und den Hügeln ausgeliefert, die sanft zum Fluss hin abfielen. Er spürte, dass sich der Boden unter seinen Füßen von nacktem Lehm in feine Natursteinfliesen verwandelte und dann wieder in weiches Gras. Ringsherum hörte er Hunderte von Schreien, als sie vor der Hitze, dem Blut und dem Irrsinn des Krieges flohen, dem Irrsinn, der bald der ewigen Ruhe des Friedhofs wich. Und all das spielte sich in der Gegenwart, der Vergangenheit und einer Zeit ab, die noch nicht angebrochen war.
Er schaute auf die alte Frau, die sterbend auf dem Küchenboden lag, und spürte den kupfernen Geschmack ihres frischen Blutes auf der Zunge. Gleichzeitig bemerkte er, dass die Erde unter seinen Füßen bebte, sah, wie sich die Schatten riesiger Dinge in dem stinkenden grauen Dunst bewegten, der sich dann klärte, worauf das idyllische Bild üppiger und schmerzvoller Herrlichkeit enthüllt wurde.
Er sah eine junge Frau am Fluss sitzen. Sie hatte einen langen, schmalen Hals und schlanke Arme. Obwohl er sie nur von hinten sah, wusste er so vieles über sie. Er wusste, dass sie ebenso wie er selbst alterslos war. Neben ihr waren noch zwei Felssteine, auf denen niemand saß.
Als er sich ihr näherte, bemerkte er, dass er den Geruch des Todes und des Sterbens nicht mehr roch. In der Luft hing nun der Duft von Geißblättern und Traubenhyazinthen. Die junge Frau drehte sich um und schaute ihn an. Sie war wunderschön.
»Mis su nimi on?«, fragte Aleks. Er wusste nicht, ob sie Estnisch sprach.
Sie beantwortete seine Frage. »Anna.«
»Was ist los?«
Anna schaute auf den Fluss und dann zu ihm. »Marya ist traurig.«
In der Nähe hörte Aleks das Rumpeln eines Fahrzeugs und lautes Hupen. Als er die Frau wieder anschaute, sah er, dass sie nun ein kleines Mädchen war, nicht älter als vier. Sie schaute ihn mit stolzen, sehnsüchtigen blauen Augen an, ihre Seele eine unbemalte Leinwand.
Er schmeckte Mehl und Zucker und Blut, und sein Hunger wurde immer stärker. Er spürte, dass sich jemand näherte.
Ein Eindringling.
Sie waren nicht mehr allein.
Aleks hob das Messer und trat in den Schatten.
49. Kapitel
Michael stand in der Gasse hinter dem Haus am Ditmars Boulevard 64. Er hatte die Zahlen auf Charlottes Zeichnung und die auf dem Kühlschrank vor Augen.
Als er das letzte Mal hier gestanden hatte, zu einer Zeit, als sein Herz noch nicht gebrochen war und er sich in dieser Welt sicher fühlte, war er neun Jahre alt gewesen. An dem Tag, als er mit vier Freunden aus der Nachbarschaft Stickball gespielt hatte. Später an diesem Abend betraten zwei Männer das Geschäft und töteten seine Eltern. Und von einer Sekunde auf die andere stand er vor den Trümmern seines Lebens. Seitdem versuchte er, die Teile wieder zusammenzufügen.
Michael drückte ein Ohr an die Tür und lauschte. Nichts.
Nachdem Abby das Haus gekauft hatte, hatten sie alle Schlösser ausgewechselt und alle Türen zusätzlich mit Sicherheitsriegeln ausgestattet. Im Unter- und im Erdgeschoss waren die Fenster ebenfalls mit Sicherheitsriegeln versehen.
Michael drehte den Knauf und drückte mit der Schulter gegen die Tür. Fest verschlossen. Er würde die Tür weder eintreten noch das neue Schloss zerstören. Sein Blick glitt auf der Suche nach einem Gegenstand, mit dem er die Fensterscheibe einschlagen konnte, über den Boden. Aus einer Mülltonne ragte ein kaputter Schirm heraus. Michael zog ihn heraus, steckte ihn durch die schmalen Gitterstäbe an der Tür und schlug zweimal gegen die Scheibe. Beim dritten Versuch zerbrach das Glas. Michael lauschte, doch er hörte nicht das geringste Geräusch. Hier herrschte Totenstille. Als er durch die zersplitterte Scheibe griff, schnitt er sich die Hand in der schmalen Öffnung an der Scherbe auf. Er drehte den Knauf herum.
Michael schaute in beide Richtungen und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war. Dann öffnete er die Tür und betrat die verlassene Bäckerei, das dunkle Reich seiner Vergangenheit.
50. Kapitel
Das, was Detective Desiree Powell vorhatte, war ein Schuss ins Blaue. Sie hasste Schüsse ins Blaue. Wenn alle Beteiligten sich noch in New York aufhielten, gab es dennoch fünf Stadtbezirke,
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