Im Netz des Teufels
Attica entlassen worden war, hatte Michael eine fünftägige Konferenz in Chicago besucht.
Anlässlich seiner Entlassung hatte Michael Solomon eine Kiste Türi geschickt, einen exquisiten estnischen Wodka, und einen Präsentkorb von La Guli’s. Zwei Mal hatten sie telefoniert. Beide Telefonate endeten mit Michaels Versprechen, Solomon bald wieder einmal zu besuchen und die Tradition der monatlichen Schachspiele wieder aufzunehmen. Tage, Wochen und Monate vergingen, ohne dass Michael den besten Freund seines Vaters besuchte hätte, den Mann, der die Ermordung seiner Eltern gerächt hatte, nachdem die Behörden gescheitert waren.
Auf das, was er sah, als Solomon Kaasik die Tür öffnete, war Michael nicht vorbereitet.
Offenbar hatte Solomon nicht mehr lange zu leben.
Die beiden Männer umarmten sich wortlos. Solomon fühlte sich an wie trockenes Holz. Michael hatte vorgehabt, anzurufen und vorbeizukommen. Das Leben fordert seinen Tribut , dachte er. Nun hatte es Solomon alles genommen.
Michael musterte ihn. Der einst vor Kraft und Gesundheit strotzende Mann sah aus wie eine wandelnde Leiche. Er hatte fünfundsiebzig Pfund abgenommen. Sein Gesicht war leichenblass und ausgemergelt. In einer Ecke des Zimmers stand neben einem Sessel ein Sauerstoffgerät. Auf dem Sessel lag eine Wolldecke, die Michaels Mutter einst für Solomon gestrickt hatte, als er zu einer Haftstrafe in Attica verurteilt worden war.
»Mischa«, sagte Solomon. »Minu poeg.«
Mein Sohn.
»Das ist meine Tochter Charlotte«, sagte Michael.
Als Solomon sich auf den Boden kniete, hielt er sich an Michaels Arm fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Charlotte wich vor dem alten Mann nicht zurück.
»Sag Mr Kaasik guten Tag«, forderte Michael sie auf.
»Hallo«, sagte Charlotte.
Solomon betrachtete das Mädchen einen Augenblick. Mit dem knöchernen Zeigefinger strich er ihr über die Wange und quälte sich dann mühsam wieder hoch. Es gelang ihm erst beim dritten Versuch. Solomon nahm seine ganze Kraft und Würde zusammen und ging wie ein Geist alleine durch den Raum in die Küche. Er drehte sich zu Charlotte um. »Möchtest du ein Glas Saft?«
Charlotte sah ihren Vater an. Michael nickte.
»Ja, gerne«, sagte sie.
Solomon öffnete den Kühlschrank und nahm eine Karaffe frisch gepressten Orangensaft heraus. Mit zitternder Hand goss er ihr ein Glas ein.
Während Charlotte mit einem Bleistift und einem Blatt Papier am Esszimmertisch saß, sprach Michael mit Solomon und erzählte ihm alles, was passiert war. Er begann mit der Ermordung von Viktor Harkov, fuhr mit den grässlichen Geschehnissen in seinem Haus fort und endete mit der blutigen Konfrontation auf der Straße.
Solomon schaute aus dem Fenster auf den Verkehr auf der Hundertsten Straße. Dann wandte er sich wieder Michael zu. »Dieser Mann, der vor dem Motel gestanden hat«, sagte er leise. »Dieser Omar. Wer war das?«
Michael sagte es ihm.
Solomon stand auf, ging zur Tür und sprach mit jemandem. Einen Moment später sah Michael einen der beiden Männer, die gegenüber an dem Wagen gelehnt hatten, in einen Kleintransporter steigen und davonfahren.
Solomon kehrte zurück, und einen Augenblick herrschte Stille. »Was hast du jetzt vor, Mischa?«
Michael wusste es nicht.
»Ich kann dir einen Mann zur Seite stellen«, fuhr Solomon fort. »Einen sehr erfahrenen Mann.«
Michael hatte darüber nachgedacht. Das war einer der Gründe, warum er Solomons Hilfe gesucht hatte. Doch er entschied sich dagegen. Es handelte sich um harte, gewalttätige Männer, und er konnte das Risiko einer Konfrontation nicht eingehen.
»Nein«, sagte Michael. »Aber du kannst mir einen anderen Gefallen tun.«
Solomon hörte ihm zu.
»Ich muss wissen, ob jemand diesen Aleksander Savisaar kennt. Ich muss wissen, mit wem ich es zu tun habe.«
»Savisaar.«
»Ja.«
»Ist er Este?«
»Ja.«
»Alt Eestlane?«
»Das weiß ich nicht.« Ob Aleks gebürtiger Este war, wusste Michael nicht.
Solomon schloss kurz die Augen. Michael musterte ihn und erinnerte sich daran, was für ein kräftiger Mann Solomon einst gewesen war, wie seine Präsenz einen Raum gefüllt und wie sehr er ihn bewundert hatte. Solomon stand mühsam auf und erlaubte Michael, ihm zu helfen.
»Ich muss telefonieren.«
Langsam durchquerte Solomon den Raum, ging auf eines der Gästezimmer zu und schloss die Tür. Michael blickte aus dem Fenster. Es war kein Streifenwagen zu sehen. Er schaute über die Dächer auf die Skyline der
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