Im Netz des Teufels
Stadt. Seine Frau und seine Tochter konnten überall sein. Nie zuvor war ihm New York größer und bedrohlicher erschienen.
Obwohl es vermutlich nur zehn Minuten dauerte, kam es Michael vor wie eine Stunde, ehe Solomon zurückkehrte. Er war jetzt noch blasser, als hätte er furchtbare Nachrichten erhalten. Michael wusste nicht, ob er dem jetzt noch gewachsen war.
»Hast du etwas herausbekommen?«
»Ja.« Solomon ging auf das Bücherregal zu. »Dieser Mann stammt aus Kolossova. Er hat im ersten Tschetschenienkrieg gekämpft.«
»Und die Hölle erlebt.«
»Und die Hölle erlebt«, wiederholte Solomon. »Er ist im Osten Estlands gut bekannt. Ein Roimar . Mein Cousin hatte schon mal mit ihm zu tun.« Solomon drehte sich um und hielt sich am Bücherregal fest. Er schaute Michael in die Augen. »Es ist nicht einfach, es dir zu sagen.«
»Dann schlage ich vor, du sagst es einfach.«
Solomon holte tief Luft. »Charlotte und Emily sind seine Töchter.«
Michael lief es heiß und kalt den Rücken hinunter, und ihm wurde schwindelig. Alle Versuche, die Ereignisse dieses Tages zu begreifen, waren bisher gescheitert. Jetzt ergab alles einen Sinn, und ihm wurde das ganze Ausmaß dieses entsetzlichen Dramas bewusst. Er konnte die Augen nicht vor den Tatsachen verschließen. Aleksander Savisaar war hier, um seine Töchter mitzunehmen. »Bist du ganz sicher?«
Solomon nickte ernst.
Michael stand auf und lief hin und her. Obwohl diese Neuigkeit furchtbar beunruhigend war, barg sie im Grunde auch einen winzigen Lichtschimmer. Wenn Aleksander Savisaar glaubte, Emily sei seine Tochter, würde er ihr vielleicht nichts antun. Andererseits war Abby dann entbehrlich, aber vielleicht erst, wenn er sein Ziel erreicht hatte.
»Er soll ein Mädchen aus dem Landkreis Ida-Viru geschwängert haben«, fuhr Solomon fort. »Eine Ennustaja . Sie hat ihm drei Kinder geboren, aber eines kam tot zur Welt.«
Michael traf beinahe der Schlag. Jetzt wurde ihm einiges klar. Drei Platzdeckchen. Drei Schokoriegel. Immer drei.
»Eine Ennustaja ?«, fragte Michael. »Eine Hellseherin?«
Solomon nickte.
Alles ergab einen Sinn, all die Versuche einer Erklärung, warum Charlotte und Emily eine viel engere Beziehung hatten und viel cleverer waren als die cleversten Zwillinge. War es möglich, dass die Mädchen ebenso wie ihre biologische Mutter hellsehen konnten? Hatten sie diese Fähigkeit geerbt? War das Hellsehen ihr Erbe?
Ta tuleb, dachte Michael. Er kommt .
Sie wussten es.
»Ich fürchte, da ist noch etwas«, sagte Solomon. Michael gefror das Blut in den Adern.
Solomon drehte sich um und ging mit unsicheren Schritten auf einen Bücherschrank zu, in dem ledergebundene Bücher standen. Er öffnete den Schrank und suchte einen Augenblick, bis er ein kleines, abgegriffenes Buch fand. Er nahm es heraus und blätterte darin. Als er sich wieder zu Michael umdrehte, spiegelte sich das ganze Elend der Welt in seinen feuchten Augen. »Koschtschei«, sagte er. »Erinnerst du dich an die Geschichte?«
Der Name war Michael vertraut. Er hatte etwas mit einem Schreckgespenst zu tun und weckte ferne Kindheitserinnerungen.
»Es ist ein altes Märchen«, erklärte Solomon ihm. »Ich habe es dir oft vorgelesen, als ihr auf dem Ditmars Boulevard gewohnt habt. Die Geschichte hat dir Angst eingejagt, aber du wolltest immer, dass ich weiterlese. Die Geschichte von Koschtschei, dem Unsterblichen, war deine Lieblingsgeschichte.«
Die Erinnerung an die Geschichte wurde lebendig.
»Du hast geglaubt, Koschtschei würde in deinem Schrank wohnen. Du hattest Albträume und hast deine Eltern nachts immer geweckt. Schließlich haben dein Vater und ich den Schrank repariert, dessen Tür immer ein Stück offen stand, und eine Lampe darin installiert. Danach hattest du nie wieder Angst.«
Bis jetzt , dachte Michael.
»Was hat das mit diesem Savisaar zu tun?«, fragte er.
Solomon wählte seine Worte sorgfältig. »Er ist verrückt, Mischa. Er glaubt, Koschtschei zu sein. Er glaubt, er würde ewig leben. Und das hat etwas mit den Mädchen zu tun.«
Michael versuchte, das alles zu begreifen. Er schwieg. Da er jetzt wusste, um was es ging, würde er einen Weg finden, es zu bekämpfen.
Solomon nickte. »Was kann ich für dich tun, Mischa?«
»Ich möchte, dass du auf Charlotte aufpasst. Ich wüsste keinen Ort auf der Welt, wo sie jetzt besser aufgehoben wäre.«
Solomon drehte sich zum Fenster um und gab einem der Männer auf der Straße ein Zeichen. Der Mann telefonierte
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