Im Netz des Teufels
Antwort.
»Okay. Dann holt noch einen«, sagte Abby. »Einen für Daddy. Dann hat jeder einen.«
Allmählich kam es Abby so vor, als würde sie sich ständig wiederholen. Es war nicht so, dass die Mädchen Michael vergaßen. Abby hatte sie oft beobachtet, wenn sie mit anderen Kindern spielten. Sie waren immer großzügig, wenn es etwas zu teilen gab. Sie und Michael hatten ihnen das schon früh beigebracht.
Andererseits waren die Mädchen erst vier. Man konnte nicht erwarten, dass sie bereits Rechenkünstler waren.
Die Stadtbücherei in Eden Falls befand sich am Fluss in einem kleinen, mit Efeu bewachsenen Gebäude im Mid-Hudson-Stil, in dem auch das Crane County Community Theatre untergebracht war.
Die Mädchen kamen zwar schon recht gut mit dem Computer zurecht, aber Abby hatte furchtbare Angst, sie alleine ins Internet zu lassen. Wenn es sich einrichten ließ, ging sie deshalb mindestens einmal pro Woche mit ihnen in eine konventionelle Bücherei aus Glas und Stein. Sie hatte als Kind viel Zeit in der Hyde Park Library verbracht, und sie wollte ihren Mädchen diese Erfahrung nicht vorenthalten. Ein Buch in der Hand zu halten, das war ein ganz besonderes Gefühl, das kein Computermonitor ersetzen konnte. Weder Charlotte noch Emily hatten jemals Lust, in die Bücherei zu gehen. Eine Stunde später wollten sie gar nicht mehr nach Hause.
Als die Mädchen sich in der Kinderbuchabteilung umschauten, hörte Abby die Sirene eines Rettungswagens, der sich der Bücherei näherte. Die Aufmerksamkeit der ausgebildeten Krankenschwester war sofort geweckt. Das war schon immer so. Seitdem sie ein Kind war, erwarteten alle von ihr, dass sie Medizin studieren würde, um in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und Chirurgin zu werden. Dr. Charles Reed wusste, dass sein Sohn Wallace nicht die erforderliche Disziplin aufbrachte und ihm die Charakterstärke fehlte, um Herzchirurg zu werden oder die harte Assistenzzeit zu meistern. Seiner Tochter traute er das durchaus zu.
Abby hatte gerade das erste Jahr ihres Medizinstudiums an der Columbia hinter sich, als sie eines Nachts auf einem vereisten Bürgersteig in East Village ausrutschte und sich das Handgelenk brach. Während sie in der Notaufnahme des New York Presbyterian Hospital behandelt wurde und die Krankenschwestern bei der Arbeit beobachtete, begriff sie, dass dies genau der Job war, den sie gerne machen wollte. Es reizte sie, die medizinische Versorgung an vorderster Front zu gewährleisten. Ihrem Vater würde das natürlich gar nicht gefallen, doch als sie zur Schwesternschule an der Columbia wechselte, wusste sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Charles Reed brauchte ungefähr dreizehn Jahre, um das zu verkraften, wenn es ihm überhaupt jemals gelang.
Als der Rettungswagen an der Bücherei vorbeifuhr, musste Abby an die Nacht vor fünf Jahren denken, als sie Michael kennengelernt hatte.
An jenem Tag war sie seit fast zwölf Stunden im Dienst. In der Notaufnahme herrschte nicht mehr Betrieb als sonst auch. Es gab nur ein Schussopfer und ein paar Opfer von Familienstreitigkeiten, unter anderem auch einen neunundfünfzigjährigen Ehemann. Seine Frau hatte ihm ein schweres Bügeleisen an den Kopf geworfen, nachdem er vor dem Sex zu ihr gesagt hatte: »Los, du fette Kuh, bringen wir es hinter uns.«
Um Mitternacht hielt ein Rettungswagen vor der Tür. Als sie den bewusstlosen Patienten in die Notaufnahme fuhren, warf der Sanitäter Abby einen Blick zu. In seinen Augen spiegelte sich die Angst, es könnte sich ein Anschlag wie der des 11. Septembers wiederholt haben.
»Bombe«, sagte er leise.
Abby schossen tausend Gedanken durch den Kopf, und die waren alle entsetzlich. Ihr erster Gedanke war, dass die Stadt wieder Opfer eines Anschlags geworden und dieser Mann der Erste von vielen war. Sie fragte sich, wie schlimm es werden würde. Als ihre beiden Kolleginnen einen Raum vorbereiteten, ging Abby ins Wartezimmer. Sie schaltete CNN ein. Zwei Männer schrien sich wegen der Hypothekenkrise an. Kein Anschlag.
Als sie den Behandlungsraum betrat, sah sie ihn.
Michael Roman, der Mann, den sie heiraten würde, die Liebe ihres Lebens, lag reglos auf der Trage. Er hatte die Augen geschlossen, und auf seinem Gesicht klebte schwarze Asche. Abby überprüfte die Werte. Der Puls war stabil, und der Blutdruck lag im Normbereich. Sie betrachtete sein Gesicht, das ausdrucksstarke Kinn, die helle Haut und das blonde Haar, doch jetzt war alles von schwarzer Asche
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