Im Netz des Teufels
Broschüre. Das UN-Gebäude, die Grand Central Station, die Freiheitsstatue, der Central Park, das Flatiron Building, das Guggenheim-Museum. Es gab so viel zu sehen.
Aber er war kein Tourist. Er musste hier eine Angelegenheit regeln – die wichtigste Angelegenheit seines Lebens.
Das Senzai-Hotel lag an der Ecke East Thirty-Eighth Street und Park Avenue. Die Bilder auf der Website wurden dem Hotel nicht gerecht. Die Marmorböden, die hohen Decken und die Messingausstattung waren überwältigend. Bevor Aleks in Tallinn abgeflogen war, hatte er sich am Flughafen die Haare schneiden lassen. Er wusste, dass in einer Stadt wie New York alle Stilrichtungen vertreten waren, und es gehörte schon einiges dazu, um dort aufzufallen, aber er wollte kein Risiko eingehen. Und mit einer Größe von fast eins neunzig, dem schulterlangen blonden Haar und der schwarzen Kleidung hätte er Aufmerksamkeit auf sich lenken können. Jetzt sah er aus wie ein großer europäischer Geschäftsmann, der zu einer Besprechung in die Stadt gekommen war. Das entsprach durchaus der Wahrheit.
Er checkte in dem Hotel ein. Die junge Frau an der Rezeption war eine Japanerin um die fünfundzwanzig. Sie hatte goldene Strähnen in ihrem glänzenden schwarzen Haar.
Die Empfangsdame begrüßte ihn herzlich und bewegte sich anmutig. Sie machte ihren Job professionell und achtete auf alle Details, was Aleks nicht nur gehofft, sondern erwartet hatte. Das war eines der vielen Dinge, die er an der japanischen Kultur bewunderte. Ihm gefiel auch, dass bei den Japanern vieles ohne Worte ausgedrückt wurde. Mitunter lebte er wochenlang vollkommen zurückgezogen, ohne mit irgendjemandem ein Wort zu wechseln, und das wusste er zu schätzen.
Nachdem sie seine Kreditkarte eingelesen hatte, fragte sie ihn, ob sie etwas für ihn tun könne. In seinem besten Japanisch antwortete Aleks ihr, dass er keine Wünsche habe. Seine Kenntnisse des Japanischen waren ziemlich dürftig, denn er hatte vor einem Kurzurlaub in Tokio während seiner Militärzeit nur einen Schnellkurs absolviert. Sie lächelte wieder und schob den elektronischen Schlüssel über die Theke. Aleks nahm ihn mit einer leichten Verbeugung entgegen, die die Frau erwiderte, und strebte den Aufzügen zu. Ehe er zwei Schritte gegangen war, kam der Portier auf ihn zu und informierte ihn, dass für ihn ein FedEx-Paket angekommen sei und dass es ihm gleich jemand bringen würde. Aleks gab dem Mann Trinkgeld, fuhr mit dem Aufzug in den achten Stock, steckte den elektronischen Schlüssel in den Schlitz und betrat seine Suite.
Der Raum war klein, aber geschmackvoll eingerichtet. Im Einbauschrank befanden sich Hausschuhe, zwei Frotteebademäntel und ein Regenschirm. Aleks hatte dieses Hotel aus verschiedenen Gründen ausgewählt, unter anderem auch wegen der Dachterrasse.
Nachdem er ausgepackt hatte, klopfte es an die Tür. Ein Page brachte ihm sein Paket.
Aleks gab dem jungen Mann Trinkgeld, schloss die Tür ab und schaltete den Fernseher ein. Es schien eine Art Show zu laufen, in der Leute mit anderen in einem Haus eingesperrt waren, die einander offenbar hassten. Aleks wandte den Blick vom Fernseher ab und öffnete das Paket. Es war alles da. Er nahm die beiden Reisepässe und das Bargeld heraus und zog das Barhydt aus der Luftpolsterfolie.
Nachdem er geduscht hatte, zog er sich um und fuhr mit dem Aufzug hinauf zur Dachterrasse.
Obwohl viele Gebäude in Sichtweite höher waren, war die Aussicht spektakulär. Aleks war schon in vielen Städten gewesen, doch ihm stand nie der Sinn danach, auf den Touristenpfaden zu wandeln und auf die Aussichtsplattformen des Eiffelturms oder auf den Triumphpalast in Moskau oder den Commerzbank Tower in Frankfurt zu steigen. Der Blick von oben interessierte ihn nicht. Es war der Blick in die Augen eines Menschen, der ihm alles sagte, was er wissen musste.
Als Aleks an den Rand der Dachterrasse trat, wehte ihm eine warme Brise ins Gesicht. Er hörte das Dröhnen des Verkehrs unten auf der Park Avenue. Zu seiner Linken war die imposante Grand Central Station, ein legendärer Ort, über den er in seinem Leben schon viel gelesen und gehört hatte. New York schien unzählige Legenden hervorgebracht zu haben.
Aleks schaute sich auf der Dachterrasse um und vergewisserte sich, dass er allein war. Dann öffnete er das Flötenetui, führte das Instrument an die Lippen und spielte »Mereschitsja« aus Koschtschei, der Unsterbliche von Rimski-Korsakov. Zuerst pianissimo, dann immer
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