Im Netz des Teufels
zehn Jahren hatte er schon manches Massaker zu sehen bekommen. Er selbst hatte an jenem entsetzlichen Tag in der Pikk-Street-Bäckerei eigene Erfahrungen mit brutaler Gewalt machen müssen.
Michael überlegte, welche Chance er wohl hätte, wenn er sich mit Kolya anlegen würde. Es war viele Jahre her, dass er sich mal hatte prügeln müssen. Da er als Angehöriger einer ethnischen Minderheit in Queens aufgewachsen war, kam so etwas damals jede Woche vor. Alle hatten ihre Ecken und ihre Straßen. Natürlich hatte es im Laufe der Jahre in und vor Gerichtssälen auch Auseinandersetzungen gegeben. Normalerweise passierte aber nicht mehr, als dass ihn jemand am Revers packte oder ihm einen leichten Schlag auf die Brust versetzte.
Allerdings trieb er regelmäßig Sport. An guten Tagen schaffte er eine Stunde auf dem Heimtrainer, konnte anschließend eine halbe Stunde Hanteln stemmen und drei volle Runden auf den schweren Boxsack einprügeln. Er war fitter denn je, aber in keiner Weise gewalttätig. Würde er sich aus dieser Zwangslage befreien können? Michael wusste es nicht, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, seine körperliche Verfassung würde bald auf die Probe gestellt werden.
Als sie durch Flushing Meadows, Queensboro und den Corono Park fuhren, dachte Michael an den Mann, der sich Aleksander Savisaar nannte. Warum wusste der Mann so viel über ihn? Würde er Abby und den Kindern wirklich etwas antun? Michael hatte keine andere Wahl, als ihm zu glauben.
Vorerst musste er jedenfalls ruhig bleiben und einen kühlen Kopf bewahren. Ihm würde schon irgendetwas einfallen. Das Schicksal seiner Frau und seiner Töchter lag in seiner Hand.
»Hören Sie, Sie sehen wie ein cleverer junger Mann aus«, begann Michael und bemühte sich, keine Angst zu zeigen. »Sie heißen Kolya? Ist das die Abkürzung von Nikolai?«
Kolya erwiderte nichts. Michael fuhr fort.
»Sie müssen wissen, dass Sie dafür den Rest Ihres Lebens hinter Gittern verbringen werden.«
Kolya sagte noch immer kein Wort. So etwas hatte er bestimmt schon häufiger gehört. Es dauerte eine volle Minute, bis er ihm schließlich antwortete. »Was wissen Sie denn schon?«
Was jetzt? Wie gerne hätte Michael den SUV gegen eine Leitplanke gefahren, die Waffe aus dem Gürtel des jungen Mannes gerissen und sie ihm an den Kopf gehalten. Doch er musste sich zunächst etwas anderes einfallen lassen. Er holte tief Luft.
»Sie wissen, dass ich Staatsanwalt bin, nicht wahr?«
Der Typ schnaubte verächtlich. Er hatte es also nicht gewusst.
Noch bevor er das sagte, wusste Michael, dass es ein Fehler sein könnte. Wenn man einem Kriminellen sagte, dass man Staatsanwalt war, führte das zu einer Menge Assoziationen, die überwiegend schlecht waren. Falls er schon mal im Knast gesessen hatte – und Michael war sich da ziemlich sicher –, hatte er das einem Staatsanwalt zu verdanken. Im Laufe der Jahre hatte Michael zahlreiche Drohungen aus Gefängnissen erhalten.
Kolya verzog das Gesicht. »Staatsanwalt.«
»Ja.«
»Ohne Scheiß? Und wo?«
»In Queens.«
Der Typ schnaubte wieder verächtlich. Vermutlich stammte er aus einem anderen Stadtbezirk. Michael tippte auf Brooklyn. Er musste dafür sorgen, dass das Gespräch nicht abriss. »Woher kommen Sie?«
Kolya zündete sich eine Zigarette an. Ein paar lange Sekunden sah es so aus, als würde er nicht auf die Frage antworten. Doch dann blies er den Rauch aus und sagte: »Brooklyn.«
»Wo da?«
Wieder eine lange Pause. »Was ist? Soll ich Ihnen jetzt mein Herz ausschütten? Und Sie sagen mir dann, dass ich wirklich niemandem etwas antun will und dass sich meine Mutter für mich schämen würde, wenn sie mich jetzt sehen könnte?« Kolya schaute kurz aus dem Fenster und wandte sich dann wieder Michael zu. »Meine Mutter war eine Scheißnutte. Mein Alter war ein Sadist.«
Michael musste unbedingt das Thema wechseln. »Es geht um meine Familie. Haben Sie Familie?«
Kolya antwortete ihm nicht. Michael warf schnell einen Blick auf die linke Hand des jungen Mannes. Er trug keinen Ring.
»Warum tun Sie das?«, fragte Michael.
Er zuckte mit den Schultern. »Jeder Mensch braucht ein Hobby.«
»Hören Sie. Ich könnte einiges an Geld auftreiben«, sagte Michael. Bei dem Gedanken, seine Familie gegen Lösegeld freizukaufen, drehte sich ihm der Magen um. »Viel Geld.«
»Quatschen Sie keine Opern.«
»Ich weiß nicht, was er Ihnen bezahlt. Jedenfalls ist es nicht genug.«
Kolya schaute ihn an. Michael konnte seine
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