Im Netz des Teufels
sich, dass er jetzt nur eine einzige Aufgabe hatte: seine Familie zurückzubekommen.
»Sind Sie bereit, mir zuzuhören?«, fragte Aleksander Savisaar.
»Ja«, erwiderte Michael. »Was soll ich tun?«
30. Kapitel
Als Sondra Arsenault auf den Fernseher starrte, setzte ihr Herzschlag eine Sekunde aus. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie nichts gegessen und das Haus nur ein Mal verlassen, um die Post hereinzuholen. Anschließend war sie zurück zur Veranda gelaufen, hatte die Tür zugeschlagen und abgeschlossen, als würden unsichtbare Dämonen sie jagen. Sie schlief nicht eine einzige Minute, trank schwarzen Kaffee, schluckte Vitamine, duschte heiß und fuhr auf dem Trimmrad. Ein Dutzend Mal maß sie ihren Blutdruck, und jedes Mal war er gestiegen. Sie reinigte den Kühlschrank. Zwei Mal.
Als sie sich jetzt den Bericht in den Nachrichten ansah, wurde ihr klar, dass ihre Ängste nicht nur berechtigt gewesen waren, sondern dass sie sich noch viel größere Sorgen machen musste. Die Gefahr war groß, dass plötzlich nichts mehr so sein würde, wie es war.
Um sechs Uhr betrat James das Haus. Seine Aktentasche war zum Bersten voll, und unter dem Arm hatte er einen Stapel Unterlagen. Er arbeitete erst seit Kurzem an der Franklin Middle School und unterrichtete nicht nur Englisch, sondern auch eine vierte Klasse in Staatsbürgerkunde. Obendrein trainierte er die Fußballmannschaft der Schule. In den vergangenen drei Monaten hatte der große, schlaksige Mann fünfzehn Pfund abgenommen. Er war erst einundfünfzig Jahre alt, hatte aber schon die leicht gebeugte Haltung eines älteren Herrn.
James küsste Sondra, die über einen Kopf kleiner war als er, auf den Scheitel – ein Begrüßungsritual, das sich vor Jahren eingebürgert hatte. Er legte die Aktentasche und die Unterlagen auf den Esszimmertisch und ging in die Küche.
Die Kinder verbrachten ein paar Tage bei Sondras Mutter in Mamaroneck, und in dem Haus herrschte eine ungewöhnliche Ruhe. Sondra fiel es noch stärker auf, weil ihr Herz laut klopfte. Sie hätte sogar schwören können, das Steigen und Fallen ihres Blutdrucks zu spüren.
Wie immer, wenn James nach Hause kam, griff er in den Schrank über dem Herd und nahm eine Flasche Maker’s Mark heraus. Ein Drink, ehe er sich in den Raum zurückzog, der ihnen in ihrem kleinen Haus im Kolonialstil als Arbeitszimmer diente. Vor dem Essen wollte er noch eine Stunde Klassenarbeiten korrigieren und E-Mails beantworten. Falls sich heute in der Schule etwas Ungewöhnliches ereignet hatte, würde er es seiner Frau in diesen zehn Minuten erzählen.
Das war einer dieser Tage.
»Du wirst nicht glauben, was heute passiert ist«, begann James. »Ein Junge, den ich in Staatsbürgerkunde unterrichte, dieser große Viertklässler, der dachte, es sei eine gute Idee, zwei Chamäleons mit in die Schule zu bringen ...«
»Ich muss dir etwas sagen.«
James, der sich gerade den Drink eingoss, verharrte mitten in der Bewegung und sackte in sich zusammen. Er sah die schlimmsten Szenarien vor Augen – eine Affäre, eine Krankheit, eine Scheidung, den Kindern war etwas zugestoßen . Sobald es Probleme gab, geriet James ins Schleudern. Er war ein guter Ehemann und ein großartiger Vater, aber ein Kämpfer war er nicht. Es war Sondra, die alle Konflikte löste, denen sie als Paar und als Familie gegenüberstanden. Es war Sondra, die den Gefahren und Missgeschicken ihres Lebens die Stirn bot.
Das war einer der Gründe, warum sie James bisher nichts von dem, was geschehen war, erzählt hatte. Jetzt hatte sie keine andere Wahl mehr.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte James mit bebender Stimme. »Mit den Kindern , meine ich ... Geht es ihnen ...?«
»Den Kindern geht es gut, James. Mir auch.«
»Und deiner Mutter?«
»Es geht ihr gut. Es geht uns allen gut.«
Sondra ging zur Spüle und starrte auf die Kaffeemaschine. Sie konnte unmöglich noch eine Tasse Kaffee trinken. Ihre Nerven waren sowieso schon arg strapaziert, und das Koffein putschte sie wahnsinnig auf. Trotzdem kochte sie sich noch eine Tasse. Sie musste sich irgendwie beschäftigen.
Seit vierundzwanzig Stunden dachte sie darüber nach, wie sie es ihrem Mann schonend beibringen sollte. Als sie nun erneut nach den richtigen Worten suchte, um ihm alles zu erzählen, wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit.
Als einziges Kind laotischer Einwanderer und geliebte Tochter eines berühmten Mathematikers und einer forensischen Anthropologin war Sondra in der
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