Im Netz des Verbrechens
Schlüsselloch nicht.
Die Managerin bewegte sich nicht, und ihr voluminöser Körper versperrte den Blick auf die Tür. Gerade als Juna zur Seite treten wollte, flog die Eingangstür auf und knallte mit einer ungeheuren Wucht gegen die Wand.
Elinor Martin ließ die Kaffeetassen fallen und stieß Juna in eins der Büros. Männer stürmten den Flur.
Als Juna sich umdrehte, sah sie, wie in Elinors so sorgfältig manikürter Hand eine Pistole lag, das rechte Hosenbein war hochgekrempelt. Die Frau schoss und ging in Deckung. Einer der Männer stolperte nach vorne, die anderen erwiderten das Feuer.
Eine der Kugeln schlug in die Wand neben Junas Kopf ein. Sie duckte sich, suchte Schutz – eine weitere Kugel ließ ein Stück Holz aus dem Rahmen absplittern. Mit hämmerndem Herzen drückte sie sich gegen die Wand neben der Tür und schob sich ein Stück weg. Sie glaubte zu hören, dass Nick ›Polizei! Waffen fallen lassen‹ oder etwas sehr Ähnliches rief, doch weitere Schüsse zersprengten den Klang seiner Stimme.
Während alles im Chaos versank, stürmte ein bewaffneter Mann ins Büro. Sein Schädel war kahl rasiert, die Gesichtszüge – wie versteinert. Er roch nach Schweiß, konserviert in Polyester-Klamotten.
Wo war Nick? War er am Leben?
Was passierte hier?
Der Mann griff nach ihrem Oberarm.
Sie merkte, dass sie noch immer den Unterteller in ihrer Hand hielt. Mit aller Kraft schlug sie damit ihrem Angreifer ins Gesicht und erwischte sein Nasenbein. Blut rann über seinen zusammengekniffenen Mund.
»Schlampe!«, zischte er auf Russisch und drückte die Pistole gegen ihre Schläfe.
Sie schloss die Augen.
Nein, ihr Leben zog nicht vor ihrem inneren Auge vorbei. Sie dachte an Nick. Dass er wie sie hier sterben würde.
»Beweg dich.« Der Typ manövrierte sie in den Flur und brüllte nun auf Deutsch: »Alles!«, womit er vermutlich ›Aus!‹ meinte, »Oderr sie – tot.«
Die Schüsse verhallten.
Sie wurde vorwärts geschoben, stolperte – über einen Arm. Zu ihren Füßen lag die tote Elinor. Der weite Ärmel ihrer Bluse war hochgerutscht. Auf der Innenseite des Armes zeichnete sich eine Brandnarbe ab, die aussah wie eine Eisblume.
28
Die kalte Luft strömte von draußen durch die weit aufgerissene Tür und ließ sie frösteln. War das wirklich möglich? Es kam ihr so unwirklich vor, aber das Mal an Elinors Unterarm ließ keinen Zweifel zu. Es war dasselbe Mal, das sie von ihrer Mutter in Erinnerung hatte. Und doch war diese Frau ganz anders, als sie sich ihre Mutter immer vorgestellt hatte. In ihrer Gangart, ihrem Aussehen, ihrer Figur – sogar in der Stimme und der Sprechart. Sie schloss die Lider. Zwölf deutsche Briefmarken im Album. Für jedes Jahr, in dem ihre Mutter verschwunden blieb? Waren es gar nicht Vaters Nachrichten, sondern ein Lebenszeichen von ihr? Mama … Das lange, schwarze Haar hast du von ihr, hatte Oma beteuert, wenn die Bürste vom Kopf bist zu den Haarspitzen glitt, immer und immer wieder. So schönes Haar. Und die Figur – ja, das ist meine Norka , hatte Oma des Öfteren geseufzt, pass auf deine Hüften auf, Kind.
Norka – wie der kleine Sumpfotter. Norka , wie Nora von Elinor?
»Weitergehen!«, bellte der Mann hinter ihr und stieß ihren Kopf mit dem Lauf an.
Sie ließ sich vorwärtsschieben, jede Bewegung fühlte sich steif an. Der hochgerutschte Ärmel, diese Narbe – vor ihrem inneren Auge schien die Eisblume größer und größer zu werden und alles hinter ihren verwobenen Mustern zu verbergen. Umso unwirklicher erschien ihr der Griff des Mannes, der mit solcher Gewalt zudrückte, als wolle er ihr den Oberarmknochen brechen.
Als Nick sie zum ersten Mal hierher gebracht hatte, war Elinor da. Wie befremdlich, jetzt diese erste Begegnung zwischen ihnen in allen Details durchzugehen, nach einem Hinweis zu suchen und nichts, absolut nichts zu finden. Diese Frau hatte sie wie eine Fremde angesehen. Um dann in der Nacht ins Zimmer zu schleichen und sie zu beobachten?
Aber die Narbe! Die Narbe log nicht.
Ihre Mutter … Da liegt sie. Im Flur. Hinter dir. Du musst dich nur nach ihr umdrehen.
Aber das konnte sie nicht. Jede unerlaubte Rührung führte einen heftigen Stoß mit der Pistole gegen ihren Schädel. Noch ein bisschen härter, und sie würde ein Loch darin haben ganz ohne die Kugel.
»Wo ist der andere?«, bellte der Mann und packte sie am Haar.
Noch hoffte sie … Hoffte, dass Nick es irgendwie geschafft hatte, hier rauszukommen. Aber er kam schon aus dem
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