Im Netz des Verbrechens
weiterkonnte. Verborgen vor den Blicken ihrer Verfolger. Sie lauschte. Keine Schüsse mehr. Nichts zu hören.
Ohne ihre Beine zu spüren, taumelte sie auf ihr Versteck zu, schob ein paar Paletten zur Seite und kroch in die Öffnung, die sich aufgetan hatte. Das Holz schrammte über ihre Oberarme und hinterließ Splitter in ihre Haut. Sie biss die Zähne zusammen. Der Berg aus Paletten über ihr sackte gefährlich ab. Sie rollte sich zusammen und drückte ihre Wange gegen den eisigen Boden. Einfach Augen schließen, ein wenig schlafen. Sie war hier sicher. Und auch wenn nicht … es war ihr egal.
Sie überließ sich ihren dahinfließenden Gedanken. Glaubte, Schritte zu hören, die sich ihr näherten. Jemand hielt vor ihrem Versteck an. Ein Mann. Sie hatte keine Kraft mehr, hinzuschauen. Die Silhouette verschwamm vor ihrem Blick immer mehr, seine ruhige Stimme spülte Tränen in ihre Augen.
Vorbei.
Alles vorbei.
4
In einem Bett aufzuwachen, hatte etwas Tröstliches. Sie gab dem Wunsch nach, sich in die Decke einzukuscheln und die Wange noch tiefer in das Kissen zu graben. Das milde Licht der Nachttischlampe zeichnete die Umgebung weich, sogar die Kanten des klobigen Furnierschrankes und die Gitterstäbe am Bettende, die in kleinen Speerspitzen ausliefen, sahen friedlich aus. Der Albtraum schien abgeklungen zu sein, seine Fäden lösten sich auf. Juna atmete tiefer, freier, versuchte zu schlucken, doch ihr Mund gab keine Spucke her. Die Zunge klebte am Gaumen. Sie schmeckte etwas Saures, Widerliches, als hätte sie sich kurz zuvor übergeben. Was war passiert? Wo war sie? Und warum war ihr so übel?
Sie drehte sich auf den Rücken, blinzelte die Decke an und versuchte, sich zu erinnern. An den Abend mit Oleg, die Lagerhalle mit den anderen Frauen und ihre Flucht. Vielleicht hatte sie es nur geträumt. Ein bisschen konnte sie noch hoffen. Und jetzt? Langsam wandte sie den Kopf zur Seite.
Der Albtraum kam zurück.
»Du bist wach.«
Obwohl das Licht der Nachtlampe alles weich zeichnete – bei seinen Narben versagte es.
Bange wartete sie darauf, was geschehen würde. Die Bettdecke drückte schwer auf ihren Körper. Der plötzlich raue Kissenbezug scheuerte an ihrer Wange. Er saß so nah an ihrem Bett, dass der warme Geruch seines Körpers sie vollkommen einnahm.
Der Stuhl knarzte unter seinem Gewicht, als er sich nach vorne beugte.
Sie wich zurück. Nur ein wenig, um den Abstand zwischen ihnen zu halten, und sie merkte, wie kalt das Laken unter ihr war. Noch immer spürte sie den warmen Hauch seines Atems. Und blickte in sein Gesicht, das wie versteinert war.
»Ich bin Nick.«
Seine Narben nahmen ihren Ursprung an seiner linken Schläfe und schlängelten sich über die Wange seinen Hals hinunter bis sie im Kragen seines Hemdes verschwanden. Das mittellange, blonde Haar war fransig geschnitten, ein bisschen wie bei einer Surferfrisur, und sichtbar darum bemüht, einen Teil der Narben zu verbergen – was ihn verletzlich aussehen ließ.
Als er ihren Blick bemerkte, wandte er den Kopf ab. Ein Schatten legte sich über seine geschundene Gesichtshälfte. Die unversehrte Hälfte zu sehen, tat ihr beinahe noch mehr weh. Weil es ihr bewusst machte, was für ein schönes Gesicht er eigentlich hatte.
»Hast du Durst?« Seine Stimme brach leicht.
Vielleicht wusste er genauso wenig weiter wie sie. Was hattest du dann mit mir vor, als du mich hierher gebracht hast? Sie schaffte es endlich, den Blick von seinen Narben abzuwenden und ihm in die Augen zu schauen. Wer … bist du?
»Soll ich dir etwas zu trinken bringen?« Was auch immer sich in seiner Stimme kurz zuvor gerührt hatte – jetzt war es weg.
Sie wünschte es zurück. Sie wünschte es so sehr.
»Wasser?«
Der Gedanke an einen Schluck kühles, frisches Wasser ließ sie fast aufstöhnen. Aber er sprach Deutsch. Und sie war sich nicht sicher, ob es klug wäre, ihm zu zeigen, dass sie ihn … verstand.
»Okay.« Langsam stand er auf und drehte sich zur Tür. Seine Bewegungen waren so behutsam, dass sich sogar der Stuhl mit seinem Geknarze zurückhielt. Jetzt, wo er sie nicht mehr ansah, wirkte er müde und irgendwie … erschöpft.
Juna löste ihre Wange vom Kissen, hob den Kopf und sah ihm nach. Ihr war immer noch etwas übel und schwindelig. Das Licht schien die Konturen seiner Schultern ein wenig zu verwischen, seine Arme und den Rücken entlangzugleiten, bis zu seiner schmalen Taille. Seine Statur betonte die Kraft, die in ihm schlummerte; er war stark
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