Im Netz des Verbrechens
etwas tun! Der Glastisch.
Erneut versuchte sie, den Stuhl zum Kippen zu bringen. Ihr Körper war zu geschwächt, als dass er ihr wirklich gehorchte. Sie holte tief Luft. Wenn sie es nicht schaffte, würde Byk zurückkommen und sie weiter quälen. Sie konnte nicht mehr. Sie konnte einfach nicht mehr.
Jetzt. Noch einmal! Und noch einmal!
Mit einem heftigen Ruck schwang sie sich zusammen mit dem Stuhl zur Seite. Er krachte gegen den Tisch. Das Glas splitterte. Den Schmerz spürte sie kaum.
Mehrere Augenblicke lang brauchte sie, um sich an ihr Bewusstsein zu klammern, das ihr zu entgleiten drohte. Die ganze Zeit verwehrte es ihr die erlösende Ohnmacht, und ausgerechnet jetzt wollte es sie im Stich lassen! Mit tauben Fingern ertastete sie eine Scherbe.
Erneut hasteten draußen Schritte vorbei, aber sie klangen leichter und schneller als die von Byk. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, eine Silhouette schlüpfte herein. Juna verharrte, lauschte angespannt, wie jemand nach dem Schalter tastete. Das Licht, das so plötzlich in ihren Augen explodierte, ließ ihren Körper krampfen. Die Scherbe entglitt ihren Fingern, sie blinzelte, als eine Gestalt auf sie zueilte.
Ihr Verstand weigerte sich tatsächlich zu realisieren, wen sie vor sich sah. Das war doch unmöglich! Warme Hände tasteten nach ihr.
»Pyschka?«, flüsterte sie kaum hörbar. »Was machst du hier?«
»Später. Alles später.«
»Nein, Pyschka … geh weg. Verschwinde von hier! Diese Leute …«
»Psch!« Ihre Freundin legte einen Zeigefinger an die vollen, mit Lipgloss überzogenen Lippen. »Wir müssen uns beeilen.« Sie nahm das Jagdmesser, das zwischen den Tischscherben lag, trennte die Fesseln an ihren Füßen und löste ihre Arme von der Stuhllehne. »Hoch mit dir. Schnell.«
Juna schwankte. Sie wollte nach ihrer Freundin greifen, sich irgendwo festhalten, doch ihre Hände waren noch immer hinter ihrem Rücken gefesselt.
In der Nähe erklangen Stimmen, jemand fluchte, zwei oder drei Männer redeten durcheinander, dann lief jemand vorbei.
»Komm. Schnell!« Pyschka zog sie zur Tür. Juna stolperte und kämpfte um ihr Gleichgewicht. Der Teppich unter ihren Füßen schien empor zu wuchern und in seiner trügerischen Weichheit ihre Füße festzuhalten. Mit jedem Schritt schien sie tiefer und tiefer darin zu versinken.
Pyschka zog sie weiter, ließ sie nicht los. Pyschka … ihre kleine, tapfere Pyschka.
Draußen nieselte es. Die Lichter verschwammen oder lösten sich im Regen auf. Als würde das kalte Nass alles fortspülen. Sie fühlte schon lange nichts mehr. »Wohin gehen wir?« Sie registrierte kaum etwas, nicht einmal Pyschkas warmen Körper, der sie stützte. Nein, sie würden es nicht schaffen.
»Juna – weiter! Ich bringe dich hier weg. Aber du musst mir ein bisschen helfen. Komm schon!«
Juna nickte.
Wieder fielen Schüsse, irgendwo ganz nah.
»Beeil dich, Juna! Hörst du mich?«
Sie musste auf den Füßen bleiben. Einen Schritt nach dem anderen tun und auf keinen Fall stolpern. Wenn sie stolperte und fiel, würde sie nicht mehr aufstehen können. Und Pyschka war nicht kräftig genug, um sie zu tragen.
»Waffe fallen lassen!«, kam es von irgendwoher.
Die Stimme schnitt durch die Abendluft wie ein Messer. Instinktiv wollte sie sich über die Augen wischen, um die an ihrem Gesicht klebenden Haare und die Regentropfen fortzustreifen, doch ihre Hände waren noch immer gebunden.
»Keinen Schritt weiter und die Waffe fallen lassen!«
Nick! Erst jetzt erkannte sie seine Stimme. Aber … das Studio! Der Schuss! In ihrem Kopf drehte sich alles.
Nick lebte! Sie wusste nicht, was sie glauben sollte, traute sich kaum, es auch nur zu denken. Denn der Schmerz, ihn zu verlieren, war schlimmer gewesen als alles, was Byk ihr hatte antun können.
»Bleib, wo du bist, oder sie ist tot!« Pyschka – in bestem Deutsch. Was ging hier vor?
Irgendetwas lief hier entschieden falsch. Doch auch nur eine Sekunde länger darüber nachzudenken, war ihr nicht vergönnt. Sie wurde herumgerissen, und der Lauf einer Pistole drückte gegen ihre Schläfe.
»Pyschka, was machst du?«, keuchte sie. »Das ist Nick!«
»Ich weiß.« Die Worte kamen trocken, schneidend.
»Was?« Der Regen war stärker geworden. Sie sah kaum noch etwas. Fühlte nur, wie sie immer weiter rückwärts gezogen wurde. »Pyschka, was machst du da?«
»Halt die Klappe. Du hättest Byk einfach nur sagen müssen, was wir wissen wollen. Dann wäre alles längst vorbei.«
Nein. Es
Weitere Kostenlose Bücher