Im Netz des Verbrechens
ich?«
Erst jetzt schaute er ihr in die Augen. Was siehst du darin, dass du mich so anblicken musst?
»Es ist kompliziert.«
Es ist immer kompliziert. Und manchmal auch ganz einfach. »Weil ich habe so einen großen Wert, wie du hast gesagt?«
Er wendete seinen Blick ab. »Weil du diejenige warst, die den Wachleuten entwischt ist. Ich musste nur minimal eingreifen. Mich mit ihnen allen anzulegen, das hätte ich nicht geschafft.«
Er klingelte erneut, doch da rasselte schon das Türschloss. Auf der Schwelle erschien eine kleine, schlanke Frau. Ihr langes Haar lag zerzaust auf den Schultern, den verträumt-verlegenen Blick ihrer hellbraunen Augen schien sie direkt aus dem Schlafzimmer mitgebracht zu haben. Dabei war es bereits Mittags.
»Nick?« Es kam mehr als überrascht.
Er lächelte darüber hinweg. »Hübsche Socken.«
Die Frau trug einen lachsfarbenen Pulli, eine enge, goldbraune Röhrenjeans und keine Schuhe. Dafür aber weiß-rote Socken mit einem Elchmuster und Bommeln an den Seiten. »Deine sind auch nicht schlecht«, erwiderte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue, was ihr etwas Südländisches verlieh. Trotzdem schien der Anblick seiner Narben ihr Unbehagen zu bereiten.
»Hallo«, sagte Juna nachdrücklich, plötzlich fühlte sie sich wie – nun ja – das fünfte Bein an einem Hund, wie man daheim sagte, und insgesamt begann sie schon jetzt sich zu hassen, weil sie den beiden ihren neckischen Spaß missgönnte. Vor allem, wenn sie beobachtete, wie Nick sich deutlich entspannte. »Entschuldigt. Juna – das ist Leah. Leah – das ist Juna. Ist Kay da?«
Okay, es gab auch noch einen Kay. Zeit zum Aufatmen.
Seine Bekannte nickte, auch wenn es ihr sichtlich schwerfiel, die ungewöhnlichen Umstände zu ignorieren. Juna seufzte. Ihr zerschlagenes Gesicht zum Beispiel. »Habe in die Tür gelaufen«, erklärte sie eine Spur zu kratzbürstig, was ihr sofort leidtat, und stammelte: »Bin. Bin gelaufen. Das ist richtiger, ja?«
Die junge Frau betrachtete sie noch einen Moment, dann schüttelte sie hastig den Kopf. »Bitte entschuldige. Ich wollte dich nicht so anstarren. Kommt rein.«
Juna trat ein und gelangte in einen langen, hellen Flur, dessen Wände unzählige eingerahmte Fotos säumten. Seltsam ergriffen betrachtete sie die Aufnahmen. Mal das Bild einer Wäscheleine, mal ein Schnappschuss einer Graffiti-Schrift über abbröckelndem Putz. So einfach und gleichzeitig so überwältigend. Diese Fotos hatten etwas Zwingendes an sich, auch wenn sie nicht hätte sagen können, was es war.
Die junge Frau blieb neben Juna stehen. Behutsam nahm sie ein Bild von der Wand, das den Teil einer Kommode zeigte: die abgeriebene Farbe, darunter die Holzmaserung, ein Messingknauf. »Früher hat Kay den Schmerz fotografiert« Sie stockte und drückte den Rahmen kurz an sich. »Das Foto hieß Die Pein . Heute heißt es Céline.« Als fiele es ihr schwer, sich davon zu lösen, hängte sie das Bild wieder auf.
Céline. Céline Winter? Juna betrachtete das Foto. »Wer ist … war … Cé …«
»Juna?« Nick stand am Ende des Flurs vor einer Treppe, die zu einer milchverglasten Tür führte. Sie verstummte und beeilte sich, ihn einzuholen. Vielleicht ging es bei Céline um ein Thema, das sie von ihm selbst hören sollte. Wenn er soweit war. Falls er jemals so weit war.
Die Tür führte zu einer Wohnung, deren Einrichtung einen unbedarften Besucher – vor allem eine Frau in verdreckten Klamotten und einer Männer-Lederjacke – durchaus einzuschüchtern vermochte. Juna war noch nie im Haus ihres Vaters gewesen, in jener Villa außerhalb der Stadt, die angeblich von einem hohen Zaun, drei Schäferhunden und zwei bewaffneten Sicherheitsexperten vor allzu neugierigen Besuchern abgeschirmt wurde. Aber so ungefähr hätte sie sich seine Behausung vorgestellt. Alles stylish, ohne Ecken und Kanten, fließende Formen – weit entfernt von dem obligatorischen Teppich an der Wand ihrer Chruschtschowka und den in einer Vitrine des Geschirrschrankes aufgestellten Kristallgläsern, die sie irgendwann erben würde, wie ihre Oma des Öfteren androhte.
Allein die leichte Unordnung machte diese Wohnung wohnlich: eine Fleece-Decke auf dem Lounge-Sofa, eine Schale mit Clementinen und ein paar losen Fruchtstücken, das aufgestapelte Geschirr in der Designer-Küche, die ein Tresen vom Wohnzimmer trennte.
Hinter einer der Türen trat ein Mann hervor. Groß, breitschultrig, das kastanienbraune Haar genauso liebevoll zerzaust wie das
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