Im Netz des Verbrechens
Augen. Mal lenkte er den Renault in einsame Gassen, mal verlor sich der Wagen im dichten Verkehr. Zunehmend wurde es mehr als unbequem, so lange im Auto zu sitzen, und auch wenn Juna des Öfteren versuchte, ihre Position zu wechseln, brachte es ihrem schmerzenden Rücken kaum Erleichterung. Sie verkniff sich jedoch die Frage, ob sie denn bald da wären. Wenn jemand ihnen folgte, war es sicherer, eine Weile in Bewegung zu bleiben.
Also beschloss sie , sich an dem Grün der Straßen zu erfreuen, statt ihre Gedanken um ihre unsichtbaren Verfolger kreisen zu lassen. Die Stadt hatte wirklich viel Natur zu bieten, nicht nur die Narzissenpracht. Ganz anders als daheim. Sankt Petersburg war ihr als klaustrophobischer, von der Sonne aufgeheizter Zementgarten erschienen, vom ersten Augenblick an, als sie mit ihrer Oma vom Moskauer-Bahnhof mit der Metro Richtung Innenstadt gefahren war. Sie mochte Großstädte nicht, doch gerade in denen lebte es sich so schön anonym.
Bald wurden die Wohnhäuser spärlicher. Sie mussten das Stadtzentrum verlassen haben und fuhren durch Randbezirke, bis der Renault in ein Industriegebiet vorgedrungen war und schließlich angehalten hatte. Der trostlose Anblick der klobigen Bauten rief in ihr das Bild des Lagerhauses hervor – sie sah die Mädchen vor ihrem inneren Auge, die dicht aneinander gedrängt im Halbdunkel kauerten, und fühlte mit jedem Herzschlag die Angst und die Hoffnungslosigkeit. Wo hatte er sie hingebracht? Zurück? Zurück zu ihren Entführern, nachdem er festgestellt hatte, dass er nichts aus ihr herausbekommen würde?
»Aussteigen?« Ihre Stimme versagte. Sie rieb sich die Handgelenke, an denen sie wieder die Fesseln spürte, und sah den Mann vor sich, der sie ankettete, ihren Kopf festhielt und zuschlug. »Nein, nein«, flüsterte sie halb erstickt.
»Es ist alles gut.« Der Motor war längst ausgeschaltet. Sie hörte ihren eigenen viel zu schnellen Atem, mahnte sich zur Ruhe, konzentrierte sich auf das Dantian , auf die Stille um sie herum – und langsam breitete sich diese auch in ihr aus. Nach der Umgebung des Mädchenlagers sah es nicht aus. Das war doch ein gutes Zeichen.
Endlich schlüpfte sie aus dem Wagen, wickelte sich fester in seine Jacke ein, und gab sich seinem Geruch hin.
»Wir gehen nur zu einem Freund. Dir wird nichts passieren.« Es klang, als würde er es ernst meinen. Als würde er sie wirklich beschützen.
Eine halb zerbröckelte Steintreppe führte zum Keller eines zweistöckigen Baus. An den Ritzen hatte sich Moos angesetzt, und ein paar Grashalme sprossen darauf empor. Der Außenputz erinnerte sie an das Gesicht ihrer Oma, die jeden Tag die Grundierung und den viel zu dunklen Puder auftrug, um doch nie auszugehen. Bis zum Abendbrot hatte sich das Make-up in ihren Falten stets zusammengekrümelt.
Ihr Fuß rutschte auf einer Stufe aus. » Japonskij ssad! «, entfuhr es ihr, während sie um ihr Gleichgewicht kämpfte. Sofort waren seine Arme da, um sie zu halten. Seine Umarmung, die Brust, an die sie sich zu bereitwillig lehnte, das Yin und Yang. »Japanischer – eh – Garten, meine ich«, murmelte sie, ein wenig verstört von seiner körperlichen Nähe.
Er bettete sein Kinn auf ihre Schulter. »Süß, wie du versuchst, russische Redewendungen zu übersetzen.«
»Süß … wenn du versuchst … nett sein«, hauchte sie zurück.
»Entschuldige.« Unverwandt schob er sie ein Stück von sich, sodass sie eine Stufe weiter hinabsteigen musste. Mit einer Hand deutete er zur Tür am Ende der Treppe. »Nach dir.« Auf einmal klang er kühl und distanziert, als wäre da nie etwas zwischen ihnen gewesen.
Es war auch nie etwas zwischen uns , erinnerte sie sich.
Nick mied ihren Blick, als würde ihn der kleine Vorfall noch immer beschäftigen. Warum nur diese Distanz? Sie hatte doch nichts Schlimmes gesagt, oder? Bloß, dass sie es schön fand, wenn er nett zu ihr war.
Das Schild neben einer schwarzen Metalltür verkündete ›Dream Impressions‹: eine schnörkellose Schrift mit einem Rabenumriss, der seine Krallen auf das große I richtete.
»Dein Freund, wer ist er? Weiß er, was du machst?«
»Nein.« Er drückte auf den Klingelknopf. »Aber ich hoffe, er hat ein hübsches Kleid für dich. Du kannst dich duschen, ausruhen und etwas Vernünftiges essen.« Er lehnte seinen Kopf gegen die Wand.
»Die Mädchen in dem Lager. Was passiert mit sie?«
»Sie sind nicht mehr in diesem Lager.«
»Warum willst du helfen mir, nicht anderen? Warum
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