Im Netz des Verbrechens
zu, bereits nach ein paar Schritten bekam sie kaum noch Luft und musste anhalten. Vielleicht spielte ihre Wahrnehmung verrückt. Egal, wie oft sie sich umdrehte oder was für Haken sie schlug, sie konnte niemanden entdecken.
Eine kleine Ewigkeit später entdeckte sie tatsächlich Leben an diesem Ende der Welt, das Labyrinth der Gassen und Straßen brachte sie an eine viel befahrene Allee.
Haute Couture erregte anscheinend nicht nur auf den Laufstegen von Paris Aufsehen, von überall zog sie mehr als eindeutige Blicke auf sich, und als ihr eine Frau im Minirock entgegenkam, erwartete sie beinahe zu hören: ›Hey, Hübsche, das ist mein Stammplatz, von dieser Laterne bis zur nächsten Hausecke‹. Aber die Frau ging wortlos vorüber, dafür erntete sie von zwei Männern, die ihr schon seit einem Block folgten, einen Pfiff, Lachen und etwas mit ›Geil!‹. Sie beschleunigte ihren Schritt. Jetzt brauchte sie keinen sechsten Sinn, um mitzubekommen, dass die Männer sie im Visier hatten. Sie lief, kam genau bis zur nächsten Straßenkreuzung, als direkt vor ihr ein Taxi bremste. Sie riss die Tür auf und schob sich auf den Beifahrersitz, was mit ihrem Petticoat eine recht entwürdigende Angelegenheit darstellte. Es war bestimmt mehr Glück als Verstand im Spiel, so viel Rock in so wenig Auto zu bekommen. Alarmiert blickte sie zu den Männern, doch diese machten nicht den Eindruck, sie weiter verfolgen zu wollen. Tief atmete sie ein und schaute verstohlen zum Fahrer.
»Entschuldigung«, nuschelte sie.
Er zuckte die Schultern. »Bin ja ein Taxi. Wo soll es denn hingehen?«
»Ich habe nicht Geld«, gab sie betreten zu. Noch einmal blickte sie zu den Männern. Warteten die jetzt auf sie?
Der Fahrer beugte sich zu ihrer Seite und sah in die gleiche Richtung. Dann glitt sein Blick über ihren Körper und blieb an ihrem Dekolleté hängen. »Belästigen die Typen Sie?«
»Ja.«
Er nickte. »Wissen Sie was, ich fahre Sie nach Hause. Das ist kein guter Ort für eine junge Frau in so einem Kleid.«
»Nicht nach Hause! Ich muss in diesen Club. Zu meiner Freundin.« Sie reichte ihm den Zettel, den sie sich schlauerweise ins Dekolleté gesteckt hatte. Er hob seine buschigen Augenbrauen. Der Breshnew-Look war hierzulande anscheinend noch nicht aus der Mode gekommen. Abgesehen davon erinnerte er sie mit seinem hellbraunen Kräuselhaar an Tscheburaschka , den süßen, tollpatschigen Helden ihrer Kindheit. Sie hatte einen aus Plüsch und einen aus Plastik gehabt.
Er betrachtete die Adresse. Jetzt würde er sie bestimmt aus dem Auto werfen. Eine mittellose junge Frau in so einer Aufmachung. Er seufzte. »Okay. Wissen Sie was? Das liegt fast auf meinem Weg. Ich bringe Sie hin.«
Mit einem Mal wollte sie aussteigen. »Nein. Alles gut. Ich laufe.«
Doch er startete schon den Motor und lenkte den Wagen in den Verkehr. »Laufen will sie! Trainierst du etwa für einen Marathon? Es ist am anderen Ende der Stadt! Schnall dich an.«
Fieberhaft überschlug sie ihre Möglichkeiten. Dürftig, dürftig. Hier im Auto würde sie sich schlecht wehren können, zu wenig Bewegungsfreiheit. Mit bebenden Händen legte sie den Gurt an. Solange er fuhr, musste er auf den Verkehr achten. Sie hatte erst einmal nichts zu befürchten.
»Wo kommst du her?«
Der plötzliche Umschwung auf das ›Du‹ behagte ihr nicht. »Russland.«
»Hätt ich mir fast gedacht.«
Sie starrte auf ein Duftbäumchen, das vor ihrem Gesicht hin und her baumelte. Den Versuch, sich den Weg zu merken, gab sie bereits nach der dritten Kreuzung auf.
»Zu Besuch hier?«
»Ja.« Aus dem Augenwinkel betrachtete sie das Armaturenbrett. Müsste hier nicht irgendwo ein Zähler und eine Sprechanlage sein? Andererseits fielen diese Dinge heutzutage überhaupt nicht mehr auf, und der Zähler war vermutlich abgeschaltet.
»Zum ersten Mal in Deutschland?«
»Ja.«
Er fragte weiter, worauf sie ähnlich einsilbige Antworten gab, bis er aufhörte. Ihr Verstand wog jedes seiner Worte genau ab, aber das Gespräch schien harmlos zu sein. Vielleicht doch nur ein Zufall, ein netter Mann der einer jungen Frau in Not helfen wollte? Sie glaubte nicht an Zufälle.
An einer Ampel holte er ein Handy heraus, entschuldigte sich, dass er seine Frau anrufen muss und bat sie mit einem Zwinkern, ihn fürs Telefonieren während des Fahrens nicht zu verpfeifen – die Freisprechanlage wäre kaputt. »Hey, ich bin’s. Ja. Alles gut. Natürlich. Bin gleich da, keine Sorge. Ciao.« Er wandte sich ihr zu.
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