Im Netz des Verbrechens
offensichtlich nicht.«
» Krähe. Ist das der … Chef?«
»Die Krähe diktiert die Gesetze. Ohne ihre Zustimmung geschieht rein gar nichts, und ich glaube, das gefällt nicht allen. Wenn sie von der Bildfläche verschwindet, kommt Bewegung in die Strukturen, und Männer wie Pawel bekommen eine Chance, mehr Macht zu erlangen. Ob er ganz nach oben kommen kann, bezweifle ich, aber sollte es ihm tatsächlich gelingen, die Krähe aus dem Weg zu räumen, wird er sich zumindest die Dankbarkeit dessen erwerben, dem es gelingt, die Macht an sich zu reißen. Scheitert er – ist er nur ein Bauernopfer.«
»Und was ist mit dir? Was willst du?«
»Juna, ich …« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann nicht.«
»Du kannst nicht? Was?«
»Juna!« Er legte die Hände auf ihre Oberarme. »Ich muss dich von hier wegbringen. Sollte dein Vater wirklich tot sein, dann bist du in Gefahr. Denn Pawel braucht dich nicht mehr.«
»Nicht ohne Pyschka.« Und nicht ohne dich.
Sie konnte unmöglich dulden, dass er hierblieb – nicht nachdem Pawel sie beide da unten auf der Bühne gesehen hatte.
»Juna, verdammt«, seine Hände drückten ihre Schultern, »ich kann nicht zulassen …«
Er redete, immer weiter. Sie lauschte so unglaublich gerne seiner Stimme; wenn er mit ihr sprach, schien alles in Ordnung zu sein, sie fühlte sich sicher, geborgen. Seine Hände massierten ihre Schultern und sie gab sich für einen Augenblick ganz dem Gefühl hin.
»Verstehst du mich?«
Sie holte tief Luft und hob den Kopf, betrachtete verwirrt sein Gesicht, das er über sie beugte. »Was?«
»Juna, ich hole deine Freundin auch hier raus, sobald ich kann. Das verspreche ich. Aber ich muss wissen, dass du in Sicherheit bist.«
»Nein, nein. Nick …« Sein Gesicht – viel zu nah. »Ich kann Pyschka nicht lassen hier. Wenn Pawel … das alles weiß … wird er sie … dafür bestrafen. Verstehst du?«
»Du bringst mich noch um den Verstand.«
Du mich auch. Sie war doch nicht geschaffen für eine romantische Liebe, für das Herzklopfen und die Schmetterlinge im Bauch. Lass los. Das alles ist nichts für dich. Sie wich zurück, und auch er senkte rasch die Arme.
»Du musst erfahren, wer wurde getötet in dem Hotel. Und du musst anrufen meine Oma, unbedingt!«
»Deine Oma?« Er hob eine Augenbraue, als würde er starke Zweifel an ihrer Zurechnungsfähigkeit hegen.
»Wenn mein Vater wusste etwas, dann kann sie sagen vielleicht, was. Hörst du? Meine Oma, sie hat gesagt …«
»Okay, stopp. Hier, das wollte ich dir schon längst geben.« Er legte etwas in ihre Hand. »Der Pin ist dein Vorname auf der Tastatur. 5-8-6-2. Meine Nummer ist abgespeichert. Sei vorsichtig, niemand darf es bei dir sehen. Nicht einmal deine Freundin. Versprichst du es mir? Ich melde mich, sobald ich weiß, wie ich euch beide hier rausbringen kann.«
Sie befühlte das flache Gehäuse des Mobiltelefons. Ungläubig drehte sie es in den Fingern.
»Sei vorsichtig und gehe kein unnötiges Risiko ein. Ich weiß zu gut, wozu Pawel fähig ist, besonders wenn er … unter Druck steht.«
»Wir müssen haben viel Glück, um zu durchstehen alles.«
Er schmunzelte und holte etwas hervor, das er behutsam zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger hielt und schließlich ihr gab. »Hier. Ein Glückscent für dich.«
Sie betrachtete die Münze auf ihrer Handfläche. »Hast du drei?«
»Drei hält besser?« Er stocherte in den Taschen herum und fand tatsächlich noch zwei weitere Münzen. »Warum unbedingt drei?«
Doch bevor sie etwas erwidern konnte, erklangen draußen Schritte – und undeutliche Stimmen. Pawels Leute? Durchkämmten sie die Räume?
»Sie dürfen uns hier nicht finden.« Mit einer fließenden Bewegung betätigte er den Schalter und versenkte den Raum in völliger Dunkelheit. »Schnell!«
Sie stolperte gegen einen Karton. Flaschen klirrten. Er schob sie weiter in den Raum, hinter ein Weinregal, und drückte sie mit seinem Körper gegen die Wand. Hier mussten sie sicher sein. Vor fremden Blicken verborgen. Sogar vor den eigenen.
Nichts sehen. Nur spüren. Mit dem ganzen Wesen – im Einklang mit ihm.
Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.
Schwer und Leicht vollenden einander.
Lang und Kurz gestalten einander.
Hoch und Tief verkehren einander.
Stimme und Ton sich vermählen einander.
Vorher und Nachher folgen einander.
Der zweite Spruch des Tao Te King klang in ihr nach, Silbe für Silbe, in jeder Zelle ihres Körpers. Ihre Fingerkuppen ertasteten seine
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