Im Palazzo sueßer Geheimnisse
ich dich per Handy nicht erreichen konnte – hast du es mal wieder aus? –, wollte ich es über das Festnetz versuchen. Aber dann erfuhr ich, dass Signor Diomede eine Geheimnummer hat. Paul hat auch schon vergeblich probiert, bei dir anzurufen – und jetzt will er persönlich kommen! So viel ich verstanden habe, plant er Sonntagabend einzutreffen. Ich dachte, ich warne dich besser vor … Hoffe, es geht dir gut. In Liebe, Tante Maureen.“
Lucy seufzte. Auf dieses zusätzliche Problem hätte sie wirklich verzichten können.
„Etwas nicht in Ordnung?“, fragte Michel, und Lucy klärte ihn auf, woraufhin er ganz unaufdringlich meinte: „Dabei kannst du ihm gleich seinen Ring zurückgeben.“
„Wenn es so einfach wäre. Du kennst Paul nicht. Ein Nein als Antwort gibt es nicht für ihn.“
„Irgendwie eine bewundernswerte Eigenschaft. Mir sagt man sie auch nach.“ Michele warf Lucy einen amüsierten Blick zu, der sie erröten ließ. „Aber in diesem Fall, denke ich, wird er Einsicht zeigen.“
Er zog an dem Glockenstrang und teilte der herbeigeeilten Rosa mit: „Bitte, bring Signorina Weston einen Mantel und pack ihr eine Reisetasche.“
Die Haushälterin ging, und Lucy fragte verwirrt: „Würdest du mir bitte sagen, warum ich einen Mantel und eine Reisetasche brauche?“
„Weil wir einen Ausflug machen und wahrscheinlich dort übernachten werden. Damit du später nicht frierst, brauchst du den Mantel.“
„Einen Ausflug? Wohin?“, fragte Lucy entrüstet. Wie konnte er es wagen, wieder einfach so über sie zu bestimmen?
„Nach Mestre. Marias Schwester ist krank, deshalb wird sie einige Tage bei ihr bleiben.“
Es dauerte, bis sie begriff. „Und du willst die Gegenüberstellung sofort?“
„Exakt“, antwortete Michele trocken. „Dazu müssten wir nach Mestre. Es sei denn, du willst mir vorher die Wahrheit sagen – dann müssten wir es nicht.“
Eigentlich hatte Lucy beschlossen, nirgendwo hinzufahren. Jetzt sagte sie strahlend. „Nein! Ich freue mich schon auf Mestre.“ Und sie freute sich auch auf Micheles Gesicht, wenn Maria bestritt, sie jemals gesehen zu haben. Und das musste sie doch. Lucy glaubte an keine andere Möglichkeit …
Mit einem Wassertaxi fuhren sie zur Piazzale Roma. Vor einer der Privatgaragen wartete ein uniformierter Parkwächter – den Michele vorab informiert hatte – und öffnete respektvoll die Tür des vorgefahrenen silbernen Mercedes. Kaum hatte Lucy auf dem Beifahrersitz Platz genommen, machten sie sich auf den Weg zum Festland.
Mestre, wie Lucy bald feststellte, war eine normale Industriestadt mit Einkaufszentren, Hochhäusern aus Glas und Beton und Bürogebäuden.
„Nicht sehr aufregend, was?“, gab Michele ihre Gedanken wieder. „Aber hier leben viele Venezianer.“
Ruhig sagte sie. „Meine Mutter wurde hier geboren.“
Michele warf ihr einen überraschten Blick zu. „Deine Mutter war Italienerin?“
„Halb Italienerin, halb Engländerin.“
„Deshalb sprichst du so gut Italienisch. Ich hatte mich schon gewundert.“
Er bog in eine Seitenstraße ein, hielt dort vor einem Apartmenthaus, und sie stiegen aus.
Durch die geöffneten Fenster hörte man das Klappern von Geschirr und die Geräusche der laufenden Fernseher. Offenbar aßen viele Familien gerade zu Abend.
Lucy folgte Michele in das Gebäude und stand neben ihm, als er an der Tür einer Parterrewohnung klingelte. Offenbar hatte man ihn erwartet, denn binnen Sekunden wurde von einer älteren Frau geöffnet, die adrett in Schwarz gekleidet war. Ihr graues Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten hochgesteckt. Sie wirkte, als fühle sie sich unbehaglich.
„ Buona sera , Maria“, begrüßte Michele sie auf Italienisch. „Entschuldigung, dass ich Sie zu einer so unpassenden Zeit störe, aber ich brauche nur eine Minute.“
Als sie einen Schritt zurück trat und die Tür weiter öffnete, schüttelte er den Kopf. „Danke, aber wir wollen nicht hereinkommen. Sie kennen Miss Weston, glaube ich?“
Maria schaute zu Lucy, in ihren Augen dämmerte erst Wiedererkennen, dann Verwirrung. „ Signore , sie sieht aus wie die andere“, meinte sie dann. „Aber sie ist nicht dieselbe.“
„Nicht dieselbe?!“
„Diese hier ist zu jung, Signore . Sie ist jung, die andere war älter.“
„Sind Sie sicher?“
„Völlig, Signore .“
„Danke, Maria.“ Stirnrunzelnd wollte Michele sich zum Gehen wenden.
„Eine Minute noch, bitte …“ Gleichzeitig erleichtert, ungläubig und neugierig
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