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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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legte sie neben den Teller. Er sah sofort, dass das ein Fehler gewesen war. Sein Angebot hatte eine deprimierende Wirkung auf die Bedienung.
    Sie stand da, in der einen Hand Essig und Ketchup, in der anderen seinen leergegessenen Teller, und dann stellte sie die beiden Flaschen ab und wischte sich mit der freien Hand über die Stirn. Es war, als wäre sie dadurch, dass er die Uhr ausgezogen hatte, noch müder geworden, als ließe sie die Schultern noch mehr hängen. Sie sah erhitzt aus, schweißfeucht, weil es in dem Schnellrestaurant so warm und voll war, aber gehetzt wirkte sie nicht.
    Die Bedienung, sah Valentin, war schön und ruhig und enttäuscht. Sie stand da, den Handrücken an die feuchte Stirn gepresst, in der anderen Hand seinen Teller, und schaute aus dem Fenster. Das Wasser im Hafen schien vom Sonnenlicht wie elektrisch aufgeladen, ein blendendes, grellweißes Licht, und sein Schiff sah aus wie ein Scherenschnitt. Er sah jemanden auf Deck herumlaufen, stehenbleiben, sich an die Reling lehnen. Die Bedienung schien vom Anblick des Schiffs wie gebannt. Als spürte sie seinen Blick, huschten ihre Finger von ihrer Stirn zum Kragen ihrer Bluse und berührten den Ehering, den sie an einer Kette um den Hals hängen hatte.
    Sie können Ihre Uhr wieder anziehen, sagte sie. Sie griff nach den Flaschen, ging weg und drehte sich nur um, weil sie die Küchentür mit dem Hintern aufdrückte, und da sah er an ihrem Gesicht, dass sie ihn bereits vergessen hatte.
    Vor dem Eingang stand ein Mann, der eine rauchte. Er bot Valentin an, ihn zur Robin-Hood-Bay-Mülldeponie außerhalb von St. John’s zu fahren, aber er sagte gleich dazu, dass die Deponie montagnachmittags geschlossen sei und es nichts bringe hinzufahren, außerdem sei es eh nicht erlaubt, dort nach Brauchbarem zu stöbern, ohne Auto komme man auch gar nicht hinein, und er fahre da mit seinem Pick-up nicht mehr rein, denn bisher habe er hinterher jedesmal einen Platten gehabt, und im übrigen gebe es da einen Elektrozaun.
    Sie wissen, was das ist, ein Elektrozaun, oder?, fragte der Mann. Er kniff die Augen zusammen, beschirmte sie mit der Hand und schaute zu Valentin hoch.
    Der Mann schnipste seine Kippe weg und sagte: Ich fahre Sie zur Mülldeponie, da Sie sich das ja offenbar in den Kopf gesetzt haben, dann können Sie es sich selbst anschauen. Wenn ihr Jungs euch am Elektrozaun verbrutzeln wollt, nur zu, mir ist das vollkommen schnurz.
    Valentin betätigte einen anderen Schalter an der Tafel, um die Stromzufuhr zu unterbrechen, fasste wieder an den Elektrozaun, und diesmal geschah nichts, also öffnete er das Vorhängeschloss. Er ging an der Wiegestation vorbei, das Gelände auf beiden Seiten der Straße war gründlich umgepflügt. In der Ferne konnte er Seemöwen seitwärts durch den Himmel gleiten sehen.
    Sie schoben den Himmel in langen weißen Schwüngen zur Seite, und dann glitt der Himmel in langen weißen Schwüngen in die andere Richtung. Die Möwen füllten den Himmel, gaben ihm Volumen und Bewegung. Er gelangte zu einem Berg grüner Mülltüten, der von Möwen bedeckt war, und er sah einen Fernseher und eine Spielzeugburg aus unverwüstlichem Plastik in den Primärfarben, so groß, dass ein Kind darin herumklettern und spielen konnte.
    Valentin meinte einen Moment lang, ein Baby weinen zu hören, und es überrieselte ihn kalt, doch es war nur eine der Möwen. Sie schrien mit unterschiedlichen Stimmen, mal klangen sie menschlich, mal wie böse Geister. Ratten sah er keine. Er war sich sicher, dass die Ratten ganz plötzlich auftauchen und ihm vor Augen führen würden, dass sie die ganze Zeit dagewesen waren. Die Mülltüten waren zu real und die Möwen in der Ferne nicht real genug. Er schüttelte den Kopf, denn die Deponie war riesig und außer ihm war niemand da, und es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu bündeln, denn der Stromstoß hatte jedes einzelne Atom seines Körpers durchzuckt und seine Zielstrebigkeit erschüttert.
    Valentin hatte einen Sohn in St. Petersburg, einen dreijährigen Jungen mit hellblonden Locken und braunen Augen. Er liebte das Kind mit einer radikalen, geradezu religiösen Inbrunst. Ohne das Kind hätte sich Valentin im Gefängnis umgebracht oder umbringen lassen, doch seinetwegen gelang es ihm freizukommen, und dann heuerte er auf dem Schiff an, weil er dem Kind Dinge wie diese Plastikburg kaufen und ihm später eine Ausbildung finanzieren wollte.
    Er hatte den Plan, dass sein Sohn sich niemals in einem Meer von Dreck

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