Im Rachen des Alligators
ungekämmten Haarkranz, der direkt über den Ohren ansetzte. Sie hatte ihn engagiert, weil sein Raglanmantel hinten einen Riss hatte, der das weinrote Futter sehen ließ, weil seine Haare nach der einen Seite abstanden, weil er sehr guten Rotwein trank und weil er an nichts anderes dachte als ans Filmemachen. Auf dem Set wirkte er entrückt und zugleich konzentriert. Sie mochte aufrichtige, halbverrückte Männer, die Freude an ihrer Arbeit hatten. Auch ihre junge, rothaarige Hauptdarstellerin mochte ihn, wie Madeleine gehört hatte.
Ich lasse mich nicht von Fakten versklaven – Guy spie das Wort aus wie Gift. Wer weiß denn schon, wie es im neunzehnten Jahrhundert ausgesehen hat? Ich werde den Leuten zeigen, wie es damals aussah.
Madeleine lässt ihn schimpfen. Er hatte sich im Winterdreh bewiesen. Blizzards, Schneeregen, Eis – er hatte gezeigt, was er konnte. Er ist der Beste in Kanada, der Beste, den sie kennt. Allein für das, was er mit natürlichem Licht bewirken kann, ist er sein astronomisches Honorar wert. Mochte er jetzt auch schreien und toben, auf dem Set würde er tatkräftig und klug sein. Er sprach respektvoll mit den Schauspielern. Er war unaufdringlich und kühn. Alle wollten seinen Erwartungen entsprechen, gute Arbeit leisten. Nicht jeder Kameramann schaffte, was Guy schaffte – was er aus der Südküste im Winter gemacht hatte: eine schauerliche, böse Landschaft, einen Fluch, eine neue Art von Schönheit.
Sie wusste, dass er glaubte, es gehe ihr ums Budget. Er empfand schon allein die Idee eines Budgets als persönliche Beleidigung. Kosten interessierten ihn nicht, dafür war er nicht zuständig. Ihn interessierte das Licht. Das war seine Zuständigkeit: sich ganz ungemein für das Licht zu interessieren.
Sie sollte eigentlich die Kosten für die Oberlichter berechnen, doch aus irgendeinem Grund denkt sie an den Bahnhof in Paris: Warum schießt ihr die Erinnerung an diesen Bahnhof mit solcher Macht durch den Kopf? Das Glasdach eines Bahnhofs – Garben von Licht, das Rattern der Räder auf den Gleisen, das jede Erinnerung in Stücke zerlegt, vierundzwanzig pro Sekunde. Wie sie Martys Hand hielt. Sie umklammerte Martys Hand, und die Gurte ihres Rucksacks schnitten ihr in die Schulter. Irgendwann hörten sie auf, sich an den Händen zu halten, verloren die Unbefangenheit, mit der sie sich zuvor in der Öffentlichkeit berührt hatten. Sie wurden wie ein altes Ehepaar. Aber damals in dem kalten Bahnhof sahen sie zu, wie Tauben gegen die Oberlichter flatterten, und er drückte ihre Hand so fest, dass es wehtat. Ihre Schritte hallten, und sie versprachen einander, dass sie sich zum Essen das teuerste Restaurant von ganz Frankreich aussuchen würden.
Komm, hier in Paris hauen wir unser Geld auf den Kopf, hatte Marty gesagt. Doch bis zum Abend hatten sie ihre Essenspläne völlig vergessen. Sie waren den ganzen Tag gelaufen, durch jede gepflasterte Straße, die sie nur finden konnten. Den Eiffelturm hatten sie gar nicht gesehen, und Madeleine stellte plötzlich fest, dass sie weinte, einfach so. Das war jetzt eben einfach so, ja?
Sie lächelte Marty an, ihre tränenverschleierten Augen wirkten rostbraun, und er dachte, sie sieht aus wie eine Wahnsinnige.
Womöglich gab es in ihrer Familie Fälle von Wahnsinn, von denen er noch nichts wusste.
Wenn sie ihm in diesem Moment ihr Schweizer Taschenmesser bis zum Schaft in die Stirn gerammt hätte, wäre ihm das vollkommen stimmig erschienen. Das sagte er ihr damals auch. Aber, fügte er hinzu, sie sei außerdem absolut hinreißend, und was für ein fehlgeleitetes Gefühl es auch gewesen sein mochte, das ihr die Tränen in die Augen trieb, es habe sie zugleich schön gemacht, und wenn es das sei, was sie wolle, solle sie ihm eben das Messer in die Stirn stoßen. Von jetzt an könne sie von ihm haben, was sie wolle.
Guy flüstert wutentbrannt: Erzähl mir jetzt nichts von Geld.
Sie tippt mit der Bleistiftspitze auf diese Zahl und auf jene, doch was sie eigentlich will, ist ein Nachmittag für sich allein. Alle denken, sie könnte die Bürde dieses Filmprojekts allein schultern. Sie spürt, wie ihre Brust sich verengt, und hält inne, um tief Luft zu holen, doch sie kann ihre Lunge nicht füllen. Warum muss sie ständig gegen irgendjemanden kämpfen? Wozu diese permanenten Auseinandersetzungen? In Rothenburg hatten sie faulig schmeckenden, grün geäderten Käse auf Baguette gegessen, und dann waren sie durch das Foltermuseum spaziert. Marty hatte
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