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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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wieder! Sie fischte ihn heraus und legte ihn auf den Picknicktisch neben sich.
    Als sie zwölf war, hatte man damit gerechnet, dass sie an einem Herzleiden sterben würde; sie erinnert sich noch daran, wie sie auf einer Trage lag und die Vibration spürte, jedes Mal, wenn die Rollen auf den Rand der gelblichen Bodenfliesen trafen, gab es eine winzige Erschütterung.
    Wie unmittelbar das Anästhetikum gewirkt hatte. Die Schwärze, in die sie nach dem kleinen Piekser sank, war wie eine Erlösung von einem heftigen Gefühl des Versagens.
    Heute wundert sie sich, dass sie in so jungen Jahren den Druck der drohenden finanziellen Katastrophe so intensiv gespürt hatte. Nach dem Tod ihres Vaters hatten sie ohne Geld dagestanden, und ihre Operation bedeutete, dass sie zu Hause nicht helfen konnte.
    Sie hätte fast auf dem Operationstisch ihr Leben gelassen, und ihre Mutter war mitten im Schneesturm zu Bowring’s gegangen, um ein Konfirmationskleid zu kaufen, das für die Aufbahrung angemessen sein würde. Das Kleid, das sie im Sarg tragen würde. Sie bekam das Kleid später gezeigt, im Schaufenster von Bowring’s; ihre Mutter hatte es zurückgebracht, als klar war, dass sie wieder gesund werden würde. Sie konnten es sich nicht leisten, ein Kleid zu kaufen, wenn es keinen Anlass gab, es zu tragen.
    Die Sonne ging unter, und sie sagte zu den Kindern: Runter vom Klettergerüst, wir holen uns ein Eis.
    Sie spazierten nach Hause, ließen sich Zeit, und später ging über dem leeren Park der Mond auf, er schien durch das Blätterdach und glitzerte auf ihrem Autoschlüssel.

Colleen
    Mr. Duffy, der mit den zerstörten Bulldozern, war ein stoppelbärtiger Mann in einer silberschwarzen, blousonartigen Windjacke und schlabberigen Jeans. Seine Nase war unförmig und hatte an den Nasenlöchern einen Stich ins Violette. In seinen Augen sah Colleen eine Art von Intelligenz, mit der sie nicht vertraut war. Eine altmodische Intelligenz, die eher an Schläue denken ließ, anders als die ihrer Mutter, die viel mit Großzügigkeit zu tun hatte.
    Er leerte eine Dose Cola, zerdrückte sie mit einer Hand und warf sie über Colleens Schulter. Colleen spürte den Luftzug der vorbeifliegenden Dose, die scheppernd und klirrend in dem Eimer hinter ihr landete.
    Colleen begriff sofort, dass sie mit ihm überfordert war.
    Sie dachte an ihre Mutter, die unten im Food Court geistesabwesend die Papierdeckel von sechs Portionen Kaffeesahne abgezogen und die Sahne in ihren Kaffee gekippt hatte.
    Die vermittelnde Sozialarbeiterin trug eine silbrige Strumpfhose, die wie Rauhreif aussah. Wenn sie die Beine überkreuzte, zischelte es jedesmal. Sie knallte eine lederne Aktentasche auf den Tisch und wühlte in ihren Unterlagen, und als sie die richtige gefunden hatte, zog sie sie heraus und breitete die Blätter auf dem Tisch aus.
    Also, ich bin Ms. Drake, sagte sie.
    Ms. Drakes Pullover war voller Flusen, winzige Baumwollknubbel, die über den ganzen Pullover verteilt waren. Sie hatte ihn offenkundig in den Trockner gesteckt. Dieser hässliche Pullover erzählte eine Geschichte von Resignation und überzogenen Kreditkarten. Ms. Drake hatte fahle, großporige Haut und einen Damenbart, sie trug einen Rock aus Polyester und scherte sich vermutlich nicht groß um den Fichtenmarder.
    Colleen rutschte auf ihrem Stuhl herum.
    Sie war sich plötzlich sicher, dass Ms. Drake nicht wissen würde, was ein Fichtenmarder war, selbst wenn einer an ihr hochspringen und sie in den Arsch beißen würde.
    Colleen beschloss, sich aufrecht hinzusetzen. Sie dachte an Julia Butterfly Hill, die zwei Jahre lang auf einem Baum mitten in einem Kahlschlag in Nordkalifornien gelebt hatte. Ringsum war alles abgeholzt. Kein anderer Baum stand mehr, doch Julia, eine Art Hippie-Waldnymphen-Amazone, war nicht von der Stelle gewichen.
    Ms. Drake knackste mit den Fingern, während sie Colleens Akte studierte, erst an der einen Hand, dann an der anderen.
    Sie legte ruckartig den Kopf auf die Seite, ein weiteres Knacksen, und zog eine Grimasse. Dann schüttelte sie beide Hände aus, sodass die Knorpel alle satt knackten. Es waren doch die Knorpel?
    Julia Butterfly Hill hatte wallendes langes Haar, das ihr bis zum Hintern reichte, und trug eine südamerikanische Wollmütze. Im Netz gab es ein Bild von ihr, auf dem sie einen Ast umklammerte wie einen Geliebten.
    Sie hätte ein Model sein können oder eine Heilige.
    Ich habe Luna ein Versprechen gegeben, sagte Julia Butterfly Hill. Luna nannte sie

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