Im Rachen des Alligators
Schadenfreude. Sie hatte das Ei kochen lassen. Das Ei kochte über. Sie ging in die Küche und legte die Zeitung auf den Tisch. Die Schockwirkung des Fotos ließ nach, der Schock trifft einen und lässt dann nach. Sie verbot es sich, das Wort böse zu denken. Das Ei war wie Gummi. Das Foto war böse.
In der folgenden Nacht träumte sie ihr Drehbuch, und sie erwachte schweißgebadet. Irgendetwas Schweres lag unter ihr, auf der Matratze, und sie wollte es auf den Boden werfen. Sie versuchte es hochzuheben, was immer es auch sein mochte, doch es war zu schwer. Zugleich nahm der Traum seinen Lauf, der Plot, die herzergreifenden Gefühle, alles, was man für einen Film braucht.
Schimmel, die an der Südküste durch einen Blizzard galoppieren, und jetzt kriegte sie das Ding im Bett zu fassen, es war schweißfeucht und kalt, und sie konnte es nicht aus dem Bett werfen, weil es an ihrer Schulter befestigt war, es war ihr Arm, gelähmt, und die Lähmung breitete sich in ihrer Brust aus, Schweiß rann ihre Schläfen hinab, oder waren es Tränen. Sie begriff, obwohl sie fest schlief, dass sie gerade einen Herzinfarkt erlitt.
Sie hatte die Zeitung auf den Tisch neben einen Krug Orangensaft gelegt. Sie goss sich ein Glas Saft ein, stellte den Krug wieder ab. Die Sonne fiel auf den Krug, und eine Parabel aus Licht hüpfte über das Foto. Eine Schlinge aus durchbrochenem Sonnenlicht zuckte über das Gesicht des gedemütigten irakischen Gefangenen, und Madeleine kam der Gedanke, dass seine Schulter gebrochen sein könnte, und sie schob das Ei vom Teller in den Müll.
Sie hatte den größten Teil des Drehbuchs innerhalb von sechs Wochen geschrieben, und dann war sie nach Toronto geflogen, um Isobel zu überreden, nach Hause zu kommen: Isobel mit ihrem bedeutsamen, nervenaufreibenden, einsamen, berstenden Leben. Isobel hatte sich in Toronto endlich einen Namen gemacht, mit ihrer Rolle in Endstation Sehnsucht . Irgendein frisch angekommener osteuropäischer Regisseur hatte die Idee gehabt, die Endstation zu entstauben – in Rumänien waren sie verrückt nach Tennessee Williams –, und für Isobel war sie zum Triumph geworden. Madeleine kam gerade im Taxi vom Flughafen, als das Handy in ihrer Tasche schrillte.
Ich weiß, wo man hier am besten italienisch essen kann, sagte Isobel.
Ich möchte, dass du dir ein Drehbuch anschaust, sagte Madeleine.
Madeleine kam an einer Betonüberführung vorbei, die mit bauchiger, unleserlicher Graffiti besprüht war; die Sonne schien auf die schmutzigen Taxifenster. Lastwagen rasten vorüber. Madeleine gefiel es, wie sich die Vorstädte ringsum aufbäumten, gewölbte Betonrücken, röhrender Verkehr. Ihr gefielen die von gepflegtem Rasen bedeckten Böschungen, auf denen, aus Ringelblumen gepflanzt, der Schriftzug Toyota prangte, und die riesigen Autofabriken, deren graue Schornsteine Rauch ausstießen, die Maschendrahtzäune, und wie sich die Schnellstraßen in der Ferne über- und untereinander wanden.
Natürlich hat sie Leute, bei denen sie wohnen könnte, es gibt kaum eine Stadt auf dieser Welt, in der sie nicht irgendjemanden kennt. Sie hat Freunde in Neu-Delhi, einen jungen Mann in Island; Martys Schwester auf Jamaika drängt sie immer, doch zu kommen. Doch am wohlsten fühlt sie sich in der Stille eines Vier- bis Fünf-Sterne-Hotels, wo die Wassergläser in Papiermanschetten stecken und die Zimmermädchen Haarnetze tragen, wo man einen umwerfenden Ausblick hat und morgens die geplünderten Tabletts vor den Zimmertüren stehen, abgenagte Knochen, fettige Servietten, Gläser mit Lippenstiftspuren.
Manche Frauen sind einfach nicht für die Ehe bestimmt, hatte Madeleine gedacht. Sie hatten an einer Kreuzung angehalten, und Scharen von Menschen strömten auf die Straße, ein Schwarzer ging mit drei kleinen Mädchen vor dem Taxi vorbei, jedes mit einem Erdbeereis in der Hand – selbst wenn die Umstände für die Liebe genau richtig sind, wollen diese Frauen immer einen anderen – das Taxi fuhr mit einem Ruck an, und sie sah einen Transvestiten mit dicker roter Halskette und einem Minikleid mit Zebramuster – vielleicht sind wirklich unabhängige Frauen in der Liebe nie zufrieden.
Es gibt immer einen anderen, dachte Madeleine. Einer ihrer Ex-Freunde war Neurologe geworden, er forschte zur Wirbelsäule von Ratten. Sie war ihm zufällig am Flughafen begegnet.
Du hast dich überhaupt nicht verändert, sagte er. Erinnerst du dich noch an den Abend, als ich dich ins Starboard Quarter eingeladen
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