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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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dass irgendetwas war, wie es war, weil es so sein musste. Er weigerte sich, das zu akzeptieren.
    Ich habe keinerlei Reserven, sagte sie. Er sah, dass ihr die Tränen kamen. Sie hatte einmal auf Befehl für ihn geweint. Sie hatte erklärt, es koste sie weniger als eine Minute, und er hatte die Zeit gestoppt.
    Es war beim Frühstück, sie saßen am Küchentisch. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte das Kinn in ihre Hände und wurde ganz still.
    Los, sagte er. Er sah, wie Nase, Wangen und Kinn sich rosig verfärbten, sah, wie sich die Haut an ihrem Kinn ein wenig kräuselte und ihre Unterlippe zu zittern begannn, und dann quollen ihr Tränen aus den Augen und rannen rasch ihre Wangen hinab. Sie hatte weniger als vierzig Sekunden dafür gebraucht.
    Sie hätte gegen die Raupen spritzen sollen, dachte Valentin, während er vor ihrer Haustür wartete. Isobel war von einer erdrückenden Trägheit, ließ sich zu leicht übermannen. Hätte sie etwas gegen die Raupen unternommen, dann hätte er sie vielleicht geheiratet. Es war ihm egal, worüber sie nachdachte oder wer sie war, vermutlich wusste sie es selber nicht. Die meisten Leute hatten keine Ahnung, was sie dachten. Er hatte eine festgefügte, hochherzige Vorstellung von der Liebe: Sie war ohne List und Tücke, voll der Aufopferung. Sie bestand aus furchterregendem Sex, gefolgt von überreizter mütterlicher Zärtlichkeit. Isobel und er hatten diese Art von Sex durchaus gehabt: gnadenlosen, puren, andächtigen Sex, den sie durchlebten, wie wenn ein Flugzeug durch eine dunkle Wolkenbank fliegt und auf der anderen Seite in der grellroten, blendenden Sonne herauskommt, doch jenseits des Liebesakts hielt sie etwas von sich zurück, das wusste er. Er hätte sich vorstellen können, sie zu heiraten, doch in ihrem innersten Wesen war sie flüchtig wie eine Seifenblase.
    In der Nacht nach der Fußmassage war er schweißgebadet aufgewacht. Er hatte geträumt, dass ihm im Einkaufszentrum jemand ein Handy gereicht hatte, mit seiner Mutter am anderen Ende. Es war ihre Stimme, sie klang, als wäre sie im selben Zimmer.
    Manchmal war das einfach kein Leben, sagte sie.
    Er lag bis zum Morgen wach und dachte an seine Mutter. Ihr schlichter Satz war ihm kryptisch erschienen, von unbändigem Kummer erfüllt. Das Rauschen des Handys hatte geklungen, als käme es aus einer Gruft.
    Sie hatten nicht mehr miteinander geschlafen, seit Isobel die Idee des Feuers akzeptiert hatte. Als er die Sandalen auf der Matte stehen sah, war er froh, dass er beschlossen hatte, das Haus niederzubrennen. Er wollte ihr zeigen, dass Veränderung möglich war. Man musste die Sache nur in die Hand nehmen.
    Er hatte sich das Feuer vorgestellt, und für sie hatte er dabei eine kleine Boutique vor sich gesehen. Er mochte Isobel nicht. Es gab nichts an ihr zu mögen. Sie legte sich auf nichts fest. Er hatte keine Ahnung, warum er sie Parfum verkaufen sah, aber so war es nun mal.
    Sie hatte ihm erzählt, dass sie nicht mit verheirateten Männern schlief, weil die in Routine erstarrt seien und sie nicht darauf zählen könne, dass sie innehielten, aufmerksam waren, wussten, was auf dem Spiel stand. Sie sagte, sie habe nicht mehr die nötige Kondition, um vor der Kamera zu stehen. Sie war von Werbeaufnahmen zurückgekommen, für die sie vor einem vereisten Kliff posiert hatte. Obwohl es zehn Grad unter Null waren, trug sie ein Chiffonkleid und dazu eine winzige weiße Stola aus Synthetik, die mit weißen Satinbändern verziert war und aussah wie eine Klobrillen-Abdeckung. Der Photograph war in die Knie gegangen. Die Kamera schräg nach oben gerichtet, kauerte er vor ihr, es war obszön. Sie sah, wie der Verschluss wieder und wieder zuschnappte. Sie hatte ihr Innerstes nach außen gekehrt, und so blickte sie in die Kamera.
    Stirn, sagte der Photograph. Und Kinn.
    Sie warf das Haar nach hinten, entspannte die gerunzelte Stirn.
    Kinn, sagte der Photograph. Sie senkte das Kinn. Seit ihrem achtzehnten Lebensjahr gab sie sich rückhaltlos der Kamera, ohne je hinterfragt zu haben, was diese Entäußerung bewirkte. Jetzt wusste sie, dass es sie herabgewürdigt hatte. Sie war unerkennbar geworden. Natürlich sind wir alle unerkennbar, aber normalerweise verbergen wir das. Ihre Unerkennbarkeit war nun zutage getreten.
    Es gibt einen Punkt, sagte sie, wo man mehr hinter sich als vor sich hat. Man nennt das Reue. An diesen Punkt – wo das, was geschehen ist, lebendiger ist als das, was noch geschehen wird – kann man in

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