Im Rachen des Alligators
das kleine Schirmchen gegeben, als etwas Großes, Dunkles unter uns hinwegschwamm.
Es war dunkel und schemenhaft, und ich schrie auf, aber niemand außer mir hatte in diesem Moment nach unten geschaut. Ich war die einzige, die es gesehen hatte. Zurück am Strand, wo wir in der strahlenden Sonne um Muschelketten feilschten, war es leicht zu glauben, dass ich es mir nur vorgestellt hatte.
Aber dieser Fisch – ich glaube, es war ein Hai – erscheint mir immer wieder im Traum. Nicht das Boot mit dem Glasboden, nicht das Sonnenlicht, das durch Moms geflochtenen Hut fiel und ihre Wangen mit hellen Lichtpünktchen übersäte, oder wie ich nachts zwischen Mom und David schlief. Ich träume, dass ich aus dem Boot falle. Etwas in mir will, dass ich herausfalle. In jedem dieser Träume bin ich kurz davor, aus dem Boot zu fallen und von irgendetwas verschlungen zu werden.
Als ich Madeleine nach dem Alligatorfilm gefragt habe, hat sie gesagt, der Mann habe einen Hirnschaden davongetragen. Die Zähne hätten seinen Schädel an mehreren Stellen durchbohrt, und es sei zu einer Infektion gekommen. Aber er sei wieder gesund. Jedenfalls mehr oder weniger.
Er betreibt ein Ökoreservat in Louisiana, sagte Madeleine. Er züchtet Alligatoren und setzt sie dann in der freien Natur aus.
Madeleine
Yoga funktioniert nicht, sie hat es ausprobiert. Es fühlt sich an wie eine eiserne Klammer. Ist sie noch mal zum Arzt gegangen? Ist sie nicht. Denn 1. muss sie diesen Film fertig machen, 2. will sie nicht zum Arzt, weil sie ihn genötigt hat, ihr die Gesundheitsprüfung zu bescheinigen, 3. krümmt sie sich vor Schmerzen und 4. ist es einfach eine Magenverstimmung.
Man setzt sich eine Idee in den Kopf. Sie wollte Neufundland vor der Konföderation, denn was für ein Menschenschlag war das gewesen? Sie erinnert sich daran, wie die Haushälterin ihrer Mutter über dem Spülbecken Kaninchen enthäutet hatte.
Sie wollte eine Schauspielerin, die die Bilder zum Leuchten bringen würde, eine, die es schwer gehabt hatte, die leidenschaftlich war. Sie wollte die Pferde aus Österreich.
Zwei Wochen lang hatte sie im vergangenen Winter auf den Anruf wegen der verdammten Pferde gewartet. Sie hatte auf das Telefon gestarrt und mit aller Macht sein Klingeln herbeigewünscht. Lipizzaner können auf einem Bein niederknien.
Sie hatte sie im Winter auf einem Frachter herbeischaffen lassen, und der Frachter war im Eis steckengeblieben.
Das passiert nun mal, sagte man ihr.
Männer seilen sich mit einer Kettensäge auf dem Rücken an der Schiffswand ab. Das Eis wird von einer gewaltigen Dünung angehoben; zackige Platten, seltsam grün, werden auf einen Wellenkamm hochgetragen und gleiten auf der anderen Seite wieder hinab. Ein tropisches Grün. Das Eis macht ein schrilles Geräusch, es kracht wie aufeinandergeschlagene Becken.
Die Männer beginnen das Eis aufzuhacken. Sie schlagen einen Weg frei, der sich wieder schließt, kaum dass er sich aufgetan hat.
Der Frachter steckte fest, und sie hatte eine Belegschaft von mehreren hundert Leuten, die sie dafür bezahlen musste, dass sie herumstanden und auf diese verdammten Pferde warteten, auf die sie nicht verzichten würde, weil sie eine Idee im Kopf hatte.
Sie hatte einen Termin mit dem Premierminister im Hotel Newfoundland gehabt. Er war auf dem Weg nach China, mit einer Handelsdelegation. Sie wollte eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber der Bank, nicht mehr und nicht weniger. Sie hatten über Politik geplaudert, und sie hatte Moltebeerenmarmelade zu ihrem Toast bestellt und darauf bestanden, dass er etwas davon probierte.
China, das ist ja toll, hatte sie gesagt und das Schälchen über das Tischtuch geschoben. Ein richtiges Abenteuer.
Sie wollte, dass er an Sommer dachte. Sie konnte nicht in Worte fassen, dass sie in diesem Film die Geschichte Neufundlands eingefangen hatte, neu, weil von ihr erfunden, oder dass der Film eine spirituelle Komponente hatte, dass er das menschliche Dasein verklären würde, und dann diese absolut umwerfende Landschaft, die Schauspielerin mit den roten Haaren, Erzbischof Fleming und die Kirchenglocken – aber sie konnte ihn mit der Marmelade ablenken.
Sie sah zu, wie er sein Messer in das Schälchen tauchte. Er kostete die Marmelade und dachte nach, und dann schwang er das Messer, wollte ihr etwas sagen. Ihm war eine Idee gekommen. Er schwang das Messer wie einen Zauberstab.
Ein Gedanke ging ihr durch den Kopf: Ich frühstücke gerade mit dem Premierminister.
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