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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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mittlerweile herrschenden tiefen Kriegsüberdrusses. Die Entschlossenheit des Nordens konnte jederzeit kippen und der Süden durch hartnäckigen Widerstand noch immer den Sieg davontragen. Der Regierung in Washington war das durchaus klar.
    Deswegen kam der Einweihung des neuen Friedhofs bei Gettysburg besondere Bedeutung zu. Sie brauchte einen möglichst feierlichen Rahmen. Reichlich Material für die Presse. Eine bewegende Rede.
    Diese Ansprache würde der angesehene Gelehrte und Politiker Edward Everett halten, der größte Redner seiner Zeit. Erst nachträglich, möglicherweise nur als eine höfliche Geste gedacht, kam man überhaupt auf den Gedanken, auch Lincoln zum Festakt einzuladen. Ja, Theodor erinnerte sich, dass er und die übrigen Photographen sich gar nicht so sicher gewesen waren, ob der Präsident tatsächlich erscheinen würde.
    *
    »Aber er kam«, sagte er jetzt zu dem Journalisten. »Es waren jede Menge Leute da – Sie wissen schon, Gouverneure und Ortsansässige und so weiter und so weiter. Vielleicht fünfzehntausend Menschen. Lincoln fuhr zusammen mit dem Innenminister, glaube ich, und dem Finanzminister vor. Dann nahm er zwischen den anderen Platz und saß einfach still da; seinen hohen Hut nahm er natürlich ab, sodass wir ihn in der Menge kaum ausmachen konnten. Ich hatte ihn früher einmal kurz gesehen, als er seine Ansprache im Cooper Institute hielt, damals noch mit glatt rasierten Wangen – mit Bart kannte ich ihn noch nicht. Wie auch immer – es gab ein bisschen Musik und ein Gebet, soweit ich mich erinnere. Und dann erhob sich Everett und hielt seine Ansprache.
    Na, und die hatte sich gewaschen, das kann ich Ihnen versichern. Er lieferte das volle Programm – zweieinhalb Stunden –, und als er endlich zu seinem rhetorisch großartigen Abschluss kam, erntete er donnernden Applaus. Danach wurde ein Psalm gesungen, und schließlich erhob sich Lincoln, und er war für uns alle gut zu sehen.
    Nun wussten wir, dass er nicht lange reden würde – die große Ansprache hatte ja Everett gehalten –, also machten wir Fotografen unsere Apparate möglichst schnell bereit. Ich nehme an, Sie wissen, wie so etwas abläuft.
    Während des Bürgerkriegs war es keine einfache Sache gewesen, ein Bild zu schießen. Zum einen wurden immer stereoskopische Aufnahmen gemacht, was bedeutete, dass man zwei Platten gleichzeitig in eine Kamera mit zwei Objektiven einführen musste – eine links und eine rechts. Ehe man die Glasplatten benutzen konnte, mussten sie rasch gereinigt, mit Kollodium beschichtet und dann, noch feucht, in eine Silbernitratlösung getaucht werden. Die Belichtungszeit betrug vielleicht nur einige wenige Sekunden, aber dann musste man die noch immer feuchten Platten schleunigst in die fahrbare Dunkelkammer schaffen. Ganz abgesehen von dem Problem, dass sich die photographierten Personen während der vergleichsweise langen Belichtungszeit bewegen konnten, war der ganze Prozess technisch derart aufwändig, dass es nahezu unmöglich war, echte Gefechtsszenen abzubilden.
    Tja, verdammt, er hatte gerade seine ersten Worte gesprochen – ›Vor siebenundachtzig Jahren gründeten unsere Väter …‹-, als ich mich auch schon an die Arbeit machte und meine feuchten Platten vorbereitete. Und ich war tatsächlich vor meinen Kollegen fertig und schob die Platten in die Kamera, als ich ihn sagen hörte: ›… auf dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von der Erde verschwinden möge‹. Und gerade, als ich ihn auf die Mattscheibe bekommen hatte, verstummte er. Und alles schwieg. Dann schaute er hinunter zu einem der Veranstalter und sagte etwas. Schien sich zu entschuldigen – er sah irgendwie entmutigt aus – und setzte sich wieder. Alle waren so überrascht, dass sie nicht einmal richtig klatschten. ›War’s das schon?‹, sagte der Bursche neben mir, der noch immer versuchte, die Platten in seine Kamera zu praktizieren. ›Ich schätze,ja‹, sagte ich. ›Jessas‹, sagte er, ›das war flott.‹ Natürlich ist die Ansprache mittlerweile ziemlich berühmt, aber damals war das Publikum nicht sonderlich beeindruckt, das können Sie mir glauben.«
    »Also haben Sie keine Aufnahme von der Gettysburger Rede geschafft?«, sagte Horace Slim.
    »Keine einzige. Und auch sonst keiner, soweit mir bekannt ist. Oder haben Sie je eine Photographie von diesem berühmten Tag gesehen?«
    »Das ist eine gute Geschichte«, sagte der Journalist.
    »Darf ich Ihnen jetzt den

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