Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
schon dunkel, als Mary das Haus am Gramercy Park verließ. Der Nachmittag war ereignislos verstrichen. Frank Master hatte nach seiner Rückkehr von der Wall Street etwas niedergeschlagen gewirkt, aber nach einem Nickerchen war er wieder obenauf gewesen und hatte sich mit den Vorbereitungen für seine morgige Schiffsfahrt nach Albany befasst.
    Sie nahm eine Droschke, die sie rasch die Fifth Avenue hinunter zum Haus ihres Bruders fuhr. Nachdem sie einige Zeit mit der ganzen Familie verbracht hatte, bat sie ihn um ein Gespräch unter vier Augen.
    »Du musst mir einen Gefallen tun, Sean«, sagte sie.
    »Worum geht’s?«
    Sie holte einen Brief heraus. Ein einziges, kleines Blatt in einem versiegelten Umschlag. Er war an Donna Clipp adressiert. Sie reichte ihrem Bruder das Kuvert, und er warf einen Blick darauf.
    »Das ist Frank Masters Handschrift«, stellte er fest.
    Mary lächelte. Tatsächlich waren die Adresse auf dem Umschlag und der kurze Brief darin schon vor ein paar Tagen von Hetty Master geschrieben worden, die mehr als genug Schriftproben ihres Mannes zum Kopieren besaß. Doch das brauchte Sean nicht zu wissen.
    »Der Brief muss morgen Vormittag der Dame persönlich zugestellt werden. Ich muss sicher sein, dass sie ihn bekommt. Könntest du das einrichten?«
    »Ich habe einen Jungen, der ihn hinbringen kann, sicher.«
    »Und wenn sie danach fragt, muss der Junge sagen, dass du ihm den Brief gegeben hast.«
    »In Ordnung.«
    »Und vor allen Dingen – von mir hast du ihn nicht, Sean. Du hast ihn erst Sonntag früh bekommen, also morgen. Ein Gentleman, bei dem es sich, wie du vermutest, um Frank Master handelte, hat ihn in aller Eile bei einem Diener an deiner Haustür abgegeben und ihm eingeschärft, er müsse umgehend zugestellt werden.«
    »Das ist der Gefallen?«
    »Das ist alles. Vergiss nur nicht, dass du den Brief nicht von mir hast.«
    Sean nickte. »Warum?«
    »Besser, wenn du es nicht weißt.«
    »Wenn du meinst …«
    »Du kannst mir glauben«, sagte sie. »Es ist zu deinem eigenen Besten.«
    Er steckte den Umschlag in seine Brusttasche. »Betrachte es schon als erledigt.«
    Als Mary an diesem Abend heimkehrte, sagte der Droschkenfahrer zu ihr: »Vorhin gab’s unten in der Stadt einen großen Zirkusumzug. Man könnte glatt meinen, es wird schon Sommer.«
    *
    Laut Fahrplan hätte die Fähre am Sonntagnachmittag um vier ablegen sollen. Um fünf lag sie noch immer am Pier. Es gab ein Maschinenproblem.
    Der Kapitän entschuldigte sich für die Verzögerung, versicherte seinen Fahrgästen aber, dass bald alles in Ordnung sei. Für Frank Master ein schwacher Trost.
    Wo zum Teufel blieb Donna Clipp? Weit und breit nichts von ihr zu sehen. Sie hätte um drei da sein sollen. Zwanzig Minuten später stieg er in eine Droschke und fuhr zu ihr. Aber auch zu Hause traf er sie nicht an, und ihre Hauswirtin sagte, sie sei schon über eine Stunde weg und habe ihr gesagt, sie würde erst ein paar Tage später zurückkommen. Er hetzte zum Pier zurück, aber sowohl der Fahrkartenkontrolleur als auch der Steward hatten versicherten ihm, eine Dame, auf die seine Beschreibung passte, sei während seiner Abwesenheit nicht aufgetaucht. Mittlerweile war es fast vier, also begab er sich an Bord.
    Hatte sie einen Unfall gehabt? Möglich. Wahrscheinlicher jedoch, dachte er, war etwas anderes. Sie hatte umdisponiert und ließ ihn wie einen Idioten sitzen. War – anders konnte es gar nicht sein – mit einem anderen Mann abgezogen. Einem jüngeren ohne Frage. Ein Übelkeit erregendes Gefühl stieg in ihm auf, das er zuletzt als junger Mann, als er Hetty noch nicht kannte, verspürt hatte.
    Er war in den Schiffssaloon gegangen und hatte einen Brandy getrunken. Alle paar Minuten ging er an die Tür und suchte mit den Augen den Pier ab für den Fall, dass sie doch noch kam. Aber es war nichts von ihr zu sehen. Nur die leere Landungsbrücke, ein paar Männer in Ölzeug und eine nicht angezündete Laterne, die im Wind schwankte.
    Und der Regen.
    Der Regen machte alles nur schlimmer. Ein gleichmäßiger Landregen peitschte das Wasser des Hudson auf und trommelte freudlos auf das Dach über dem Saloon, während von Zeit zu Zeit Männer aus dem Maschinenraum auftauchten, dem Kapitän Bericht erstatteten und dann wieder verschwanden.
    »Es könnte noch ein, zwei Stunden dauern«, teilte ihm der Kapitän um sechs mit.
    Frank hatte ihn schon zweimal gefragt, was das Problem sei. Ein Ölleck, hieß es das erste Mal. Dann, ein Problem mit dem

Weitere Kostenlose Bücher