Im Rausch der Freiheit
hatte sich nach ihr erkundigt. Ihre Freundin schien nicht zu wissen, ob es ein Polizist gewesen war oder vielleicht einfach jemand, der wütend auf sie war. Scheinbar war da jemand auf der Suche nach gewissen verschwundenen Wertgegenständen. Dem goldenen Armband etwa, das sie gerade trug.
Sie könnte behaupten, man habe es ihr geschenkt. Aber war es wirklich wahrscheinlich, dass ein reicher Mann seiner eigenen Frau den Schmuck stahl, um ihn seiner Geliebten zu schenken? Würde eine Jury das glauben? Sie hatte da ihre Zweifel.
Wenn er sie nicht unter einem Vorwand ins Haus geholt, und wenn sie nicht all die schönen Dinge gesehen hätte, die seine Frau besaß, wäre das gar nicht passiert. In gewissem Sinne war es seine Schuld. Aber das würde ihr kaum weiterhelfen. Wenn die ihr in Philadelphia auf die Spur gekommen waren, würden die sie dann auch in New York finden? Möglich. Nicht gleich, aber eines Tages. Sie war sich unschlüssig, was sie in der Sache unternehmen sollte.
Das Einfachste wäre gewesen, die belastenden Dinge loszuwerden – dann hätte man ihr nichts mehr beweisen können. Aber sie waren wertvoll. Bevor sie sich dazu entschloss, musste Frank Master wirklich etwas springen lassen.
Als er die Flussreise nach Albany vorgeschlagen hatte, und dazu mit dem ganzen Komfort des luxuriösesten Dampfers, hatte sie gedacht, dass sich alles vielleicht doch noch zum Besseren wenden könnte. Sie hatte sich sorgfältig vorbereitet. Und sie war ziemlich enttäuscht gewesen, als gerade am Abfahrtstag sein Brief gekommen war, der die Planänderung ankündigte. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig als mitzuspielen und zu schauen, was ihr angeboten wurde.
Also hatte sie ihr Gepäck in eine Droschke geladen und war von Greenwich Village nach Brooklyn aufgebrochen.
Nur schade, dass es regnete. Als die Brooklyn Bridge, diese gigantische Hängebrücke, fünf Jahre zuvor eröffnet worden war, hatte man sie als eines der Neuen Weltwunder bezeichnet. Über 1 800 Meter lang, bis zu 44 Meter über dem Südende des East Rivers aufragend, gestützt von zwei mächtigen spitzbogenförmig durchbrochenen Pylonen und getragen von den gewaltigen durchhängenden Kurven der Stahltrossen, verkörperte sie die Pracht dieses neuen Industriezeitalters.
Die Mitte der Fahrbahn nahm eine doppelte Straßenbahntrasse ein. Zu beiden Seiten davon verliefen Fahrbahnen für Pferde und Fuhrwerke. Und oberhalb der Gleise spannte sich in einer elegant ansteigenden Kurve, in der Luft schwebend, ein scheinbar endloser Fußgängerüberweg zwischen den zwei Firmamenten des Flusses und des Himmelgewölbes.
Wenn man mit einer Droschke die äußere Fahrbahn entlangfuhr, genoss man einen atemberaubenden Blick auf den Fluss.
Heute aber nicht. Durch den unerbittlich herabströmenden Regen konnte sie weder das Wasser unten noch auch nur den vor ihr aufragenden Pylon sehen. Es war vielmehr so, als sei sie in die Regenwolke selbst eingetaucht.
Den ganzen Nachmittag lang hatte sie noch angenommen, Master sei lediglich aufgehalten worden. Als es Abend wurde, hatte sie sich gefragt, ob ihm etwas zugestoßen sein konnte. Um acht war sie zu dem Schluss gelangt, dass er wegen des schlechten Wetters die Reise abgeblasen hatte; aber zumindest hätte er ihr ein paar Zeilen schicken können – und eine Droschke, die sie wieder nach Haus befördern würde. Sie hatte beim Kellner eine Kanne Tee bestellt und ausgeharrt, nur für den Fall, dass er doch noch kommen würde. Um neun hatte sie eine heiße Brühe bestellt. Jetzt war es nach zehn, und ihr reichte es. Es war ihr egal, was ihm passiert war, sie fuhr jetzt nach Haus. Sie bat den Hotelportier, ihr eine Droschke zu rufen.
Doch eine Stunde verging, und eine Droschke war weit und breit nicht zu finden.
*
Es war schon nach Mitternacht, als Lily de Chantal beschloss, sich zu Bett zu legen. Sie hatte ihren Text für den nächsten Tag einstudiert. Nicht, dass ihre Rolle schwierig gewesen wäre, aber sie wollte sicher sein können, dass sie sie perfekt spielen würde. Und um ehrlich zu sein, freute sie sich auch darauf. Denn Rache – und das galt selbst für einen herzensguten Menschen wie sie – schmeckte süß.
Neun Uhr morgens, dachte sie, wärs genau die richtige Zeit. Falls die kleine Miss Clipp nicht schon jetzt von ihrem gescheiterten Rendezvous zurückgekehrt war, würde sie es bis dahin allemal sein. Und dann auf dem falschen Fuß erwischt werden, ehe sie überhaupt ihre Gedanken ordnen konnte.
»Ich
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