Im Rausch der Freiheit
zur Ruhe zu setzen, aber Giuseppe hatte für beide eine nicht allzu anstrengende Arbeit gefunden. Zum ersten Mal in den über zwanzig Jahren seit ihrer Ankunft in Amerika sah Concetta Caruso zufrieden aus. Maria zog mit ihnen nach Long Island und fand bald Arbeit in einem Laden.
Damit blieben nur noch Salvatore, Angelo und Onkel Luigi in der Stadt.
Und Paolo natürlich, auch wenn man ihn so gut wie nie zu Gesicht bekam. Ein paar Monate nach Annas Tod hatte er mit dem Schuhputzen aufgehört. Er erzählte der Familie, er arbeite jetzt für einen Mann, der Grundbesitz in Greenwich Village habe. Salvatore ging einmal dorthin und fand ein Büro vor, in dem mehrere Italiener Zahlenkolonnen in irgendwelche Bücher schrieben. Als er sagte, er suche nach seinem Bruder Paolo, erklärten sie ihm, Paolo sei unterwegs, und luden ihn auch nicht ein, auf seine Rückkehr zu warten. Mehr fand Salvatore nie heraus. Jede Woche legte Paolo für ihre Mutter Geld auf den Küchentisch, doch sie nahm es nur widerwillig an; wenn er ihr Geschenke anbot, lehnte sie sie immer ab. Mit der Zeit redeten Paolo und sie zunehmend weniger miteinander, und am Ende teilte er ihr mit, er habe einen anderen Platz zum Wohnen gefunden.
Alle paar Monate allerdings – in der Regel, wenn Salvatore irgendwo allein war – tauchte Paolo plötzlich auf. Dann lächelte er und umarmte seinen Bruder, und sie plauderten oder besuchten gemeinsam ein Restaurant. Paolo strahlte jetzt etwas Hartes aus, und Salvatore hatte das deutliche Empfinden, dass sein Bruder, wenn nötig, eiskalt und angsteinflößend werden konnte. Bevor sie sich trennten, gab Paolo Salvatore immer Geld für ihre Eltern.
Salvatore und Angelo hatten über die Möglichkeit gesprochen, ebenfalls nach Long Island zu ziehen, waren aber bald zu dem Ergebnis gelangt, dass sie eigentlich beide keine Lust dazu verspürten. Also räumten sie die Wohnung um, sodass Onkel Luigi bei ihnen einziehen konnte, und da sie alle drei hart arbeiteten und sich die Miete teilten, schafften sie es, jeder für sich, Woche für Woche ein bisschen Geld beiseitelegen. Onkel Luigi, der seine Trinkgelder hortete und sich praktisch nur von den Resten ernährte, die im Restaurant übrig blieben, musste schon beträchtliche Ersparnisse angehäuft haben, aber über diesen bloßen Verdacht kam Salvatore nie hinaus. Als er Onkel Luigi einmal fragte, was er mit seinem Geld anfange, erklärte ihm sein Onkel: »Ich investiere es.« Und als Salvatore ihn fragte, woher er immer wisse, in was er investieren sollte, antwortete Onkel Luigi: »Ich bete zum heiligen Antonius.« Salvatore erfuhr nie, ob er das ernst meinte.
Salvatore vergaß nie, was er dem berühmten Tenor versprochen hatte. Er passte immer auf Angelo auf und empfand es eigentlich auch nie als eine lästige Pflicht. Er liebte seinen kleinen Bruder. Nach Annas Tod hatte er angefangen, ihm die Welt zu zeigen. Als die Carusos in New York angekommen waren, reichte das U-Bahn-Netz lediglich bis hinauf nach Harlem; aber in den zwei folgenden Jahrzehnten wurde es nach Norden bis in die Bronx, nach Osten rüber nach Brooklyn und bis weit hinauf nach Queens erweitert. Die Fahrkarte kostete nur fünf Cent, egal, wohin man wollte. Manchmal fuhren er und Angelo hinaus in die immer ferneren Vororte – nur um sagen zu können, dass sie dort gewesen waren.
Ab und zu lud Salvatore seinen Bruder auch zu einem Spiel ein. Seit Babe Ruth für die Yankees spielte, machte Baseball in New York richtig Spaß. Angelos liebste Freizeitbeschäftigung aber war, ins Kino zu gehen. Es war kein teures Vergnügen. Sie schauten sich die Keystone Kops und Charlie Chaplin an, der inzwischen nach Amerika übergesiedelt und vom Theater zur Leinwand gewechselt war. D.W. Griffiths bildgewaltige Filmepen sahen sie sich immer und immer wieder an. In dem Moment, in dem der Organist in die Tasten griff, nahm Angelos Gesicht einen entrückten Ausdruck an. Er hatte außerdem ein unglaubliches Gedächtnis und konnte jeden Film nennen, in dem seine Lieblingsdarsteller mitgewirkt hatten, und Fakten über ihre Darbietungen und ihr Privatleben referieren, ganz so wie andere Jungen sich Baseballergebnisse merkten. Die Laufbahnen von Mary Pickford und Lillian Gish verfolgte er mit besonderer Aufmerksamkeit.
Diese Filmsterne schienen allerdings die einzigen Frauen in Angelos Leben zu sein. Salvatore ging gern mit Mädchen aus, und er wollte durchaus eines Tages heiraten, aber nicht, ehe er etwas Geld angespart haben
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