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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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hielt Charlie Master sich die ganze Zeit bei seinem Vater im Büro auf. Vielleicht hatte seine Mutter etwas gesagt, vielleicht lockte ihn ein Gespür für Dramatik dorthin. Falls Letzteres der Fall war, bewahrheiteten sich seine Ahnungen. Denn der Schwarze Montag und der Schwarze Dienstag der Wall Street waren Ereignisse, die unvergesslich bleiben würden.
    Übers Wochenende hatten die Anleger die Zeitungen gelesen, über die beruhigenden Erklärungen der Banker nachgedacht und ihre eigenen Schlüsse gezogen.
    Und diese ließen sich mit einem einzigen Wort zusammenfassen: verkaufen.
    Am Montag sah Charlie mit an, wie der Markt einbrach. An dem Tag fiel der Dow um über zwölf Prozentpunkte. Doch der Dienstag verlief noch dramatischer. Der prozentuale Abstieg blieb praktisch gleich – verblüffend war aber das Handelsvolumen. Über sechzehn Millionen Aktien wechselten an diesem Tag den Besitzer. Die Anzahl der getätigten Transaktionen war so gigantisch, dass die Börsenticker um zweieinhalb Stunden hinterherhinkten. Die Augen ängstlich auf seinen Vater gerichtet fragte er sich, ob eine Maklerfirma ein solches Gemetzel überhaupt überleben konnte.
    Vielleicht war es gut, dass William sich von seinem Sohn beobachtet wusste. Es half ihm, die Krise durchzustehen. Mochte man es Tapferkeit vor dem Feind, Würde unter Druck oder wie auch immer nennen, jedenfalls tat er sein Bestes, seinem Sohn ein Beispiel zu geben. Als der Index in zwei Tagen ein Viertel seines Wertes verlor, verzog er keine Miene. Er wirkte ernst, aber ruhig. Am Mittwochmorgen ließ er sich von Joe wie immer im silberfarbenen Rolls-Royce in die Firma chauffieren. Im Büro rief er seine Mitarbeiter zusammen und schärfte ihnen ein: »Seien Sie wachsam, Gentlemen. Sehr bald, vielleicht schon heute, wird sich eine hervorragende Gelegenheit zum Kaufen ergeben.«
    Und siehe da, so geschah es.
    Am Mittwoch, den 30. Oktober, stieg der Index wieder um unglaubliche zwölfeinhalb Prozentpunkte. Kurz vor Mittag vertraute William seinem Sohn an: »Ich kaufe.« Am nächsten Tag schloss der Parketthandel mit einem weiteren Plus von fünf Prozent. Als sie das Büro verließen, sagte er zu Charlie: »Ich habe gerade wieder verkauft.«
    »Schon?«, sagte Charlie.
    »Gewinnmitnahme. Letzte Woche habe ich einen Batzen Geld verloren, aber gerade eben habe ich die Hälfte wieder hereingeholt.«
    Die Woche darauf sackte der Index allerdings wieder ab. Fünf Prozentpunkte am Montag; neun Prozent am Dienstag. Und so rutschte er weiter ab, Tag für Tag. Am 13. November stand der Dow bei 198 Punkten, gerade der Hälfte seines Septemberhochs.
    Große wie kleine Investoren mit geringem Eigenkapital und hohen Schulden wurden vom Parkett gefegt. Maklerfirmen, die ihnen für die Aktiengeschäfte Geld geliehen hatten, das jetzt nicht zurückgezahlt werden konnte, erklärten ihren Bankrott. »Viele von den schwächeren Banken könnten ebenfalls Pleite machen«, sagte William zu seinem Sohn. Doch jeden Morgen sah die Wall Street William Master in seinem silberfarbenen Rolls-Royce vor der Firma vorfahren, und ebenso selbstverständlich und nach außen hin gelassen führte er seine Geschäfte fort. »Wir haben Verluste hinnehmen müssen«, äußerte er Maklerkollegen gegenüber, »aber die Firma ist gesund. Und das Gleiche gilt für die Wirtschaft dieses Landes«, fügte er gern hinzu. Dasselbe sagte er seiner Frau und seinem Sohn.
    Seine Zuversicht wurde belohnt: Nachdem er sein November-Tief erreicht hatte, stabilisierte sich der Aktienindex; und als das Jahr 1930 anbrach, begann er wieder zu steigen. »Es gibt jede Menge zinsgünstige Kredite«, sagte William. »Und wenn die Leute jetzt bei ihren Darlehensaufnahmen vorsichtiger sind, ist das keine schlechte Sache.«
    Inzwischen hatte Charlie mitbekommen, dass sein Vater kräftig auf eigene Rechnung handelte. Die Abschlüsse bekam er nicht zu sehen, aber er wusste, dass es dabei um große Summen ging. »Kaufst du auf Pump?«, fragte er. »Ein bisschen«, lautete die Antwort. Ende März jedoch, als ein Sachbearbeiter einen dieser Abschlüsse mit ihm statt mit seinem Vater überprüfte, sah Charlie, dass William zu jedem Dollar, den er aus eigener Tasche hinlegte, neun weitere aufnahm – genau wie die Zehn-Prozent-Kleinanleger vor dem Krach. Als er seinen Vater darauf ansprach, nahm ihn William mit in sein Büro und schloss die Tür.
    »Tatsache ist, Charlie, dass ich letzten November mein eigenes Geld in die Firma stecken musste, damit

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