Im Rausch der Freiheit
nicht alles auseinanderbrach. Erzähl’s deiner Mutter nicht. Erzähl’s niemandem. Vertrauen ist alles in diesem Geschäft. Ich hole mir mein Geld ziemlich schnell wieder herein.«
»Bist du sicher, dass die Aktien steigen?«
»Schau, 198 war der Tiefpunkt, Charlie. Ich behaupte nicht, dass wir wieder auf 381 kommen, aber die 300 werden wir erreichen. Da bin ich mir sicher.«
Und von dem Tag an wurde diese Behauptung zur täglichen Litanei der Maklerfirma Master. »Wir werden die 300 erreichen«, sagten sie zueinander. »Wir werden die 300 erreichen«, sagten sie zu ihren Kunden. »Mr Master sagt das.« Und es dauerte nicht lang, da sah es so aus, als würde Master recht behalten. Am 30. April erreichte der Dow 294 Punkte.
*
Es war ein heißer Vormittag im August, und Salvatore Caruso befand sich in schwindelnden Höhen. Er mauerte flink und präzis. Doch mit seinen Gedanken war er kaum bei der Arbeit. Alle paar Minuten schaute er nach unten und suchte die Straße mit den Augen ab: Er wartete auf eine Nachricht.
Er war mit seinem Beruf durchaus zufrieden. In den letzten achtzehn Monaten hatte er auf mehreren Baustellen gearbeitet, aber diese war fraglos die aufregendste. Fifth Avenue, unten an der 34th Street, da wo Anfang des Jahres noch das prunkvolle Waldorf-Astoria-Hotel residierte. Schon im März allerdings war da nichts mehr außer einer riesigen Grube, vierzig Fuß tief, bis hinunter zum Grundgestein. Und jetzt wuchs aus dem Untergrund mit verblüffender Geschwindigkeit der Wolkenkratzer, der alle bisherigen Wolkenkratzer in den Schatten stellen würde.
Das Empire State.
Das Projekt war in jeder Hinsicht ein einziger Superlativ. Der Bauträger Raskob, aus ärmsten Verhältnissen stammend, war zur rechten Hand der mächtigen Familie du Pont und zum Präsidenten des Finanzkomitees von General Motors aufgestiegen. Der Frontmann des Projekts, Al Smith, war zwar nach wie vor arm, doch als ehemaliger demokratischer Gouverneur des Staates New York ein angesehener Mann, der, wäre er kein Katholik gewesen, sogar zum Präsidenten der Vereinigten Staaten hätte gewählt werden können. Beide Männer galten als extravagant. Beide verabscheuten die Verlogenheit der Prohibition. Beide liebten Herausforderungen.
Und wenn Walter Chrysler sich eingebildet hatte, sein ach so kluger Einfall mit der stählernen Zinne würde ihm den Rang des Königs der New Yorker Skyline lange sichern, dann sah er sich schwer getäuscht. Das Empire State Building würde seinen Wolkenkratzer überragen.
Salvatore arbeitete schon ein paar Jahre mit demselben Trupp von Maurern. Sie zogen zusammen von Baustelle zu Baustelle und waren als eine fähige Kolonne bekannt. Sie kamen alle gut miteinander aus, aber manchmal vermisste er trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, die Zeiten, in denen er und Angelo Seite an Seite gearbeitet hatten.
Seine Augen suchten wieder die Straße ab. Jetzt wartete er auf Neuigkeiten von Angelo.
Die Baustelle war bestens organisiert. Um die Anwohner der Fifth Avenue nicht zu belästigen, wurde immer darauf geachtet, dass die Fahrbahn frei blieb. Jeden Morgen fuhren die Lastwagen nach einem strengen Zeitplan von einer Straße auf die Baustelle und verließen sie über eine andere, während ihre Ladung schleunigst zu dem Geschoss hinaufgeschafft wurde, auf dem man sie gerade benötigte.
Die Baumaterialien stammten von den verschiedensten Orten. Die gewaltigen T-Träger aus Pittsburgh, der Kalkstein aus Indiana, Holz von der Pazifikküste, Marmor aus Italien und Frankreich, und als diese Lieferanten nicht mehr nachkamen, hatte die Baufirma in Deutschland einen ganzen Steinbruch gekauft.
Das Allererstaunlichste war das Tempo, mit dem die Arbeit voranging. Während das gewaltige Stahlgerüst stetig in den Himmel wuchs, folgten die Maurer und Steinmetze dichtauf. Das Empire State Building nahm pro Tag um fast ein Stockwerk zu.
Gerade in diesem Moment schwang, ein paar Stockwerke höher und ein Stück weiter nach links, ein Eisenträger lautlos ins Sichtfeld. Auf ihm saßen rittlings ein paar Männer.
»Da kommen die Rothäute«, bemerkte einer aus der Kolonne.
Auf der Baustelle arbeiteten Aberdutzende von Mohawks. Ganze Sippen von ihnen hatten ein halbes Jahrhundert zuvor ihre speziellen Fertigkeiten beim Brückenbau in Kanada erlernt. Jetzt waren sie aus ihren Reservaten nach Süden gezogen, um an den Wolkenkratzern von New York zu arbeiten.
Salvatore schaute gern zu, wie die Mohawks gelassen auf
Weitere Kostenlose Bücher