Im Rausch der Freiheit
seine Patienten wartet.«
»Ist er ein guter Pianist?«
»Ja. Aber ein fürchterlich schlechter Zahnarzt – meine Mutter würde ihm nie erlauben, unsere Zähne zu behandeln.«
Eigentlich verspürte Sarah keine Lust, über ihre Familie zu reden. Sie wollte mehr über sein Leben erfahren. Also redeten sie noch eine Zeitlang über die Dreißigerjahre. Sie fand es unglaublich interessant und stellte überdies fest, dass sie ihn zum Lachen bringen konnte.
Schließlich musste sie zurück in die Galerie. Ihr nächstes Treffen war für den folgenden Monat vereinbart worden, daher nahm sie nicht an, dass sie ihn bis dahin wiedersehen würde. Doch gerade als sie sich voneinander verabschiedeten, sagte er: »Nächste Woche eröffnet in der Betty Parsons Gallery eine neue Ausstellung. Gehen Sie zu Vernissagen?«
»Ja«, sagte sie leicht überrumpelt.
»Na, dann sehen wir uns ja vielleicht dort.«
»Wäre möglich.«
Ich werde ganz bestimmt da sein, dachte sie. Obwohl sie immer noch nicht herausgefunden hatte, ob er verheiratet war. Aber schließlich gab es auch einiges, was er über sie nicht wusste.
*
Am Samstag nahm Charlie die Fähre nach Staten Island. Es war ein schöner Oktobertag, und so genoss er die Fahrt. Er machte sie in der Regel jedes zweite Wochenende, um den kleinen Gorham abzuholen.
Es war nicht seine Idee gewesen, seinem Sohn diesen Namen zu geben. Julie hatte ihn nach ihrem Großvater nennen wollen, und seine eigene Mutter hatte das gebilligt. »Ich finde es ist schön, den Namen eines Vorfahren zu tragen, der die Verfassung mitunterschrieben hat«, hatte sie erklärt. Altes Geld und so weiter.
Julie repräsentierte »altes Geld« und besaß zudem welches. Sie war blond, blauäugig und blass, und ihre Familie war sogenanntes »Social-Register« -Material wie auch die Masters. Mrs Astors berühmte Vierhundert mochten obsolet sein, aber die »Register«, diese großherzigeren Führer durch die guten alten Familien Amerikas waren so aktuell wie nie. Ja, wie Charlie vermutete, schien es absolut möglich, ein erfülltes Gesellschaftsleben zu führen, ohne das von ihnen vorgegebene Terrain zu verlassen. Seine Mutter war entzückt gewesen, als er bei Kriegsende Julie geheiratet hatte.
Und nicht sonderlich erfreut, als sie letztes Jahr beschlossen, sich scheiden zu lassen.
Er hatte angenommen, dass es an ihm lag. Julie war seine ständig wechselnden Beschäftigungen leid geworden. Nicht, dass er kein Geld verdient hätte. In den dreißiger Jahren war das Geld zwar knapp gewesen, aber er war mit allerlei freiberuflichen Aktivitäten immer über die Runden gekommen. Selbst während der Depression konnte man in der Unterhaltungsindustrie Geld verdienen. Er arbeitete an Theaterstücken und Filmen mit und brachte es, kurz bevor er heiratete, sogar zu einer kleinen Beteiligung an einem Broadwaymusical. Und nachdem Julie die Wohnung gekauft hatte, war er immerhin imstande gewesen, Nebenkosten und so weiter zu bestreiten. Als ihr Sohn geboren wurde, hoffte er, das Kind würde sie näher zusammenbringen.
Der kleine Gorham. Die meisten Leute hatten Spitznamen. Wenn man John hieß, wurde man zu Jack. Henry war Harry, Augustus war Gus, Howard war Howie, Winthrop war Win, Prescott war Pres. So nannten einen die Leute – diejenigen, die man kannte, heißt das. Aber Gorham blieb aus welchen Gründen auch immer einfach Gorham.
Dann teilte Julie ihm mit, dass sie die Scheidung wollte, um einen Arzt – aus Staten Island ausgerechnet! – heiraten zu können. Nichts gegen Staten Island, wohlgemerkt. Der Borough of Staten Island, wie er offiziell hieß, besaß bislang noch keine Brückenverbindung zu einem der anderen Stadtbezirke und hatte sich daher den ländlichen, fast an das 18. Jahrhundert gemahnenden Charakter bewahrt, den Manhattan schon gänzlich verloren hatte. Von Weitem, über das Wasser hinweg, bot die Insel einen reizenden Anblick, aber die lange Fahrt auf sich nehmen zu müssen, um den Sohn fürs Wochenende abzuholen, war doch recht lästig.
Julie und Gorham erwarteten ihn an der Anlegestelle. Julie trug einen neuen Mantel und einen kleinen Filzhut. Sie sah gut aus. Bei der Scheidung hatte er jede ihrer finanziellen Forderungen akzeptiert. Warum sich wegen so was streiten. Sie hatte die Wohnung verkauft, und da der Arzt, den sie heiratete, schon ein schönes Haus besaß, blieb ihr genug zum Ausgeben.
Während der Rückfahrt legte er den Arm um seinen Sohn und machte ihn auf dieses und jenes aufmerksam.
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