Im Rausch der Freiheit
erwischte es sie.
Nichts durfte schieflaufen in der Kinderaufzucht. Ein ungesunder Perfektionismus herrschte. Auf dem Sportplatz fand man wohl noch den alten taffen amerikanischen Geist. Nur reichte das?
»Ich glaub’s einfach nicht, dass du mir nicht erlaubst, ADS zu haben!«, sagte Emma.
Tief innen, dachte er, war sie wahrscheinlich froh. Kinder mögen es, wenn man Nein sagt. Er erinnerte sich, wie sein ältester Sohn einmal, noch als kleiner Stöpsel, über einen anderen Jungen gesagt hatte: »Der ist seinen Eltern ganz egal, Dad. Die lassen ihn alles tun, was er will.« Da war viel Wahres dran.
»Gehen wir zu Fuß«, schlug er vor.
»Durch den Park? Okay.«
Zuerst machen wir einen kleinen Schlenker, dachte er. Nur eben rauf zur 72nd Street. Das war eine herrliche Straße durch den Park. Als sie Central Park West erreichten, blieb er stehen und zeigte auf das Dakota.
»Du weißt ja, wer da wohnte.«
»Sag’s mir.«
»John Lennon. Von den Beatles.«
»Stimmt. Das wusste ich. Dort wurde er auch erschossen. Und seine Frau Yoko Ono hat gegenüber im Park einen schönen Garten gestiftet.«
»Bist du da jemals gewesen?«
»Ich wette, du schleppst mich so oder so gleich hin.«
»Wette gewonnen.«
Sie überquerten die Central Park West und betraten den Park. Er führte Emma zum Eingang von Yoko Onos Garten.
»Er heißt Strawberry Fields, nach einem berühmten Beatles-Song.«
»Okay.«
»Jetzt schau dir das runde Mosaik auf dem Boden an. Was steht in der Mitte?«
»Da steht ›Imagine‹.«
»Genau. Das ist ebenfalls nach einem Lennon-Lied.« Er summte die ersten Takte.
»Du solltest das Singen wirklich besser lassen, Dad.«
»Es handelt davon, dass jeder auf der Welt in Frieden leben könnte. Na ja, es handelt von allen möglichen Dingen, die John Lennon vermutlich wichtig waren. Aber die Kernaussage ist irgendwie existenziell. ›Du kannst die Welt verändern, wenn du bereit bist, dir etwas Besseres vorzustellen.‹ Du musst es dir vorstellen. Imagine. Verstehst du?«
»Wenn du meinst.«
»Tu ich, ja.«
Sie schlenderten herum.
»Ursprünglich wimmelte es hier von Wild.«
»Wie in Westchester.«
»Genau. Manhattan war ein einziges großes indianisches Jagdgebiet, als die Holländer hier ankamen. Deine Vorfahren, weißt du.«
»Ja, Dad.« Sie verdrehte die Augen, jedoch mit einem Lächeln. »Ich weiß. Ich stamme von den Holländern und den Engländern und keine Ahnung wem sonst noch alles ab.«
»Wo jetzt der Broadway verläuft, war damals ein Indianerpfad. Und ein weiterer Pfad führte ein Stück östlich vom Central Park nach Norden.«
»Na toll. Muss ich das alles wissen?«
»Ich meine schon.«
»Sonst noch was?«
Gorham schwieg. Er dachte nach.
»Es ist komisch, ›Strawberry Fields‹ heißt der Garten nach dem Lied, aber ursprünglich könnten hier ohne weiteres Walderdbeeren gewachsen sein. Hast du jemals Walderdbeeren gegessen?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Das müssen wir bei Gelegenheit ändern. Wir sollten mal zelten gehen und Walderdbeeren essen.«
Zu seiner Überraschung schien ihr die Idee zu gefallen.
»Könnten wir machen. Zusammen zelten gehen.« Sie hängte sich bei ihm ein. »Machen wir das mal? Versprochen?«
»Versprochen.«
Sie durchquerten den Park Arm in Arm. Die Sonne war warm. Er versuchte nicht weiter, ihr Vorträge zu halten, und sie schien vollauf damit zufrieden zu sein, einfach an seiner Seite zu gehen.
Seine Kinder waren schon in Ordnung, dachte er. Was ihnen fehlte, war lediglich eine Herausforderung. Man schaue sich einige ihrer Freunde an – Lee, der chinesische Junge, hatte es nach Harvard geschafft. Oder die Männer, die es in den letzten Jahrzehnten zum Bürgermeister gebracht hatten: Fiorello La Guardia, Ed Koch, David Dinkins, Rudy Giuliani – ob jüdisch, schwarz, Italiener, jeder Einzelne von ihnen hatte sich aus ärmlichen Verhältnissen emporgearbeitet. Man mochte den einen oder den anderen von ihnen vielleicht weniger schätzen – aber was für eine Erfolgsstory für diese großartige Stadt! Viele der reichen Freunde seiner Kinder stammten überdies aus Familien, die zwei Generationen früher noch in der Lower East Side wohnten. Der amerikanische Traum war kein Traum; er war Realität. Die Menschen kamen auf der Suche nach Freiheit hierher, und – so mühsam der Weg nach oben auch sein mochte – sie fanden sie. Um es zu schaffen, war jedoch Arbeitsethos erforderlich. Was nur gut war.
Er dachte an Dr. Caruso. Caruso arbeitete
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