Im Rausch der Freiheit
die während der Verhandlung ermittelten Fakten und die geltenden Gesetze. Das ist die letzte und einzige Verteidigung gegen schlechte Gesetze. Nachdem eine Jury sich geweigert hat, trotz gegenteiliger Beweis- und Gesetzeslage einen Schuldspruch zu fällen, ändert sich das fragliche Gesetz zwar nicht, aber nur wenige Kronanwälte werden danach noch bereit sein, eine ähnliche Anklage zu erheben – aus Angst, künftige Jurys könnten genauso entscheiden. Das ist die Taktik, die der alte Hamilton gerade eben angewendet hat. Und zwar brillant.«
»Wird sie aufgehen?«
»Das werden wir, glaube ich, gleich erfahren.«
Denn die Geschworenen kamen bereits zurück und nahmen wieder ihre Plätze ein. Der Richter fragte, ob sie zu einem Urteil gelangt seien. Der Sprecher der Jury bejahte dies. Er wurde aufgefordert, es zu verkünden.
»Nicht schuldig, Euer Ehren«, sagte er entschieden.
Der Richter verdrehte die Augen gen Himmel. Die Zuschauer im Saal aber brachen in Jubel aus.
Als sie das Gericht verließen, sah Eliot Master so vergnügt aus, dass Kate sich bei ihm einhakte – eine Vertraulichkeit, die sie sich für gewöhnlich nicht herauszunehmen wagte.
»Das war ein wichtiger Tag in unserer Geschichte«, bemerkte ihr Vater. »Ich bin froh, Kate, dass du ihn miterleben durftest. Ich glaube, dass wir morgen unbesorgt nach Boston aufbrechen können. Tatsächlich«, fuhr er mit einem schiefen Lächeln fort, »bedaure ich nur eines.«
»Und das wäre, Vater?«
»Dass wir heute Abend bei unserem Cousin speisen müssen.«
*
Der junge John Master bog in den Broadway ein. Er kam an mehreren Bekannten vorbei, nickte ihnen aber nur ganz flüchtig zu und behielt den Kopf unten. Als er an der Trinity Church vorbeieilte, blickte er nach oben. Der schöne anglikanische Turm schien verächtlich auf ihn herabzuschauen. Er wünschte sich, er hätte einen anderen Weg genommen.
Er brauchte nicht daran erinnert zu werden, dass er nichts wert war.
Der zugeknöpfte Mann aus Boston hatte das gestern unmissverständlich klargemacht. Auf höfliche Weise natürlich. Doch als dieser Anwalt die Tatsache, dass er den Robinson Crusoe gelesen hatte, mit einem gönnerhaften »Na ja, das ist immerhin etwas« kommentierte, wurde das mehr als deutlich. Der Bostoner hielt ihn für einen Idioten. Für John keine neue Erfahrung. Der Vikar ihrer Kirche, der Rektor seiner Schule, die sahen das alle auch nicht anders.
Sein Vater hatte ihm immer erlaubt, in der Firma mitzuarbeiten und die Gesellschaft der Seeleute zu genießen, mit denen er gut zurechtkam. Aber nur, weil er gütig war und ihn so akzeptierte, wie er eben war.
Er und seine Lehrer wären überrascht gewesen zu erfahren, dass John heimlich immer wieder mal versucht hatte, etwas zu lernen. Wenn es ihm gelänge, sich etwas Wissen anzueignen, hatte er gedacht, würde er sie eines Tages alle überraschen. Aber das führte zu nichts. Er starrte auf das Buch, aber die Wörter tanzten nur verschwommen vor seinen Augen; er konnte nicht ruhig sitzen, warf einen Blick aus dem Fenster, schaute wieder zur Seite; so sehr er sich auch bemühte – er kapierte einfach nichts. Selbst wenn er es gelegentlich fertigbrachte, wirklich ein paar Seiten zu lesen, stellte er schon kurz darauf fest, dass er sich an kein einziges Wort mehr erinnerte.
Sein Vater war weiß Gott ebenfalls kein Gelehrter. John hatte gesehen, wie er vor dem Bostoner Anwalt und dessen Tochter geblufft hatte, als das Gespräch um Philosophen gegangen war. Aber immerhin wusste sein Vater genug, um bluffen zu können. Und selbst ihm war es peinlich gewesen, dass sein Sohn noch nie was von Addisons Cato gehört hatte. Der vorwurfsvolle Ton hatte ihn zutiefst beschämt.
Und dabei war es ja nicht so, dass diese Bostoner Menschen einer anderen Welt angehörten. Er konnte nicht einfach sagen: »Das sind Advokaten, Leute von Stand, was ganz anderes als unsere Familie.« Das waren seine Blutsverwandten. Nahe Cousins. Kate war nicht älter als er. Was mussten die nur von ihren New Yorker Verwandten denken?
Nicht nur waren sie dumm und ungebildet, nein, sie waren zudem ganz gewöhnliche Schmuggler. Ja, auch das hatte er in seiner Blödheit ausgeplaudert, und damit seinen Vater noch mehr in Verlegenheit gebracht.
Aber das Schlimmste, die Erinnerung, bei der sich ihm alles umdrehte, war der Augenblick mit dem Mädchen gewesen.
Die Sache war die, dass er mit den Mädchen, die er zusammen mit den Seeleuten in der Stadt kennenlernte, zwar auf
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