Im Rausch der Freiheit
von der ihres Vaters, aber darum nicht gering zu schätzen. Und als auf eine für sie neue Art seltsam rührend und reizvoll empfand sie eine weitere Entdeckung: Der griechische Gott war verletzlich.
Und so hatte sie vom Augenblick ihrer Ankunft an auf sein Erscheinen gewartet. Sie sah, dass der Vater des Jungen ebenfalls, einen Anflug von Ratlosigkeit im Gesicht, nach ihm Ausschau hielt: Und als sie sich zu Tisch setzten, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und fragte ihren Gastgeber, ob sein Sohn nicht mit ihnen speisen werde.
»Er kommt schon noch, Miss Kate«, antwortete der Kaufmann mit leicht verlegener Miene. »Ich weiß auch nicht, wo der Junge steckt.«
Doch der Fisch wurde abgetragen, ebenso das Fleisch, und er ließ sich immer noch nicht blicken. Und vielleicht war es nicht nur Höflichkeit, sondern auch die Erwartung, ihn wiederzusehen, die sie veranlasste, für ihren Vater hörbar, ihrem Gastgeber gegenüber ihrer Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass er und seine Familie sie in nicht allzu langer Zeit in Boston besuchen würden.
Es geschah nicht oft, dass ihr Vater seine guten Manieren vergaß. Das Entsetzen in seinem Gesicht war bereits nach einer Sekunde wieder verschwunden. Aber alle hatten es gesehen. Er reagierte zwar schnell, aber doch eine Spur zu spät.
»Aber natürlich!«, rief er herzlich aus. »Sie müssen zu uns zum Essen kommen. Essen Sie mit uns, wenn Sie einmal in Boston sind.«
»Sehr liebenswürdig«, sagte sein New Yorker Cousin ein wenig trocken.
»Wir sehnen schon …«, fügte Eliot hastig hinzu. Aber was er ersehnte, konnte er nicht mehr verraten. Denn in diesem Moment flog die Tür auf, und der junge John Master torkelte ins Zimmer.
Er bot keinen hübschen Anblick. Wäre sein Hemd so weiß wie sein Gesicht gewesen, hätte es noch angehen können. Aber es war schmutzig und sein Haar zerzaust. Seine Augen waren glasig und irrten blicklos im Zimmer umher. Er schwankte auf den Füßen, sah sturzbetrunken aus.
»Bei Gott …«, stieß sein Vater hervor.
»Guten Abend.« Er schien seinen Vater nicht gehört zu haben. »Komm ich zu spät?« Schon von der Tür aus begann der Geruch von schalem Bier, der in seinem Atem lag und aus seinem Hemd drang, allmählich das Zimmer zu erfüllen.
»Hinaus! Verlass den Raum!«, brüllte der Kaufmann. Doch John bekam nichts von alledem mit.
»Ah.« Jetzt ruhten seine Augen auf Kate, die sich, da er hinter ihr stand, nach ihm umgedreht hatte. »Miss Kate.« Er nickte vor sich hin. »Meine Cousine. Die liebreizende, ich wiederhole: die liebreizende Miss Kate.«
»Sir?«, entgegnete sie, unschlüssig, was sie weiter sagen sollte. Aber sie hätte sich keine Gedanken zu machen brauchen, denn ihr Cousin war bereits selbsttätig in Gang gekommen. Er tat einen Schritt nach vorn, schien umkippen zu wollen, fing sich wieder und prallte dann gegen die Rückenlehne ihres Stuhls, an der er sich, halb über ihre Schulter hängend, vorübergehend festhielt.
»Was für ein hübsches Kleid, Cousine!«, rief er. »Sie sind heute Abend wunderschön. Sie sind immer wunderschön!«, lallte er. »Meine wunderschöne Cousine Kate. Ich küsse Ihre Hand.« Und beugte sich tiefer über die Stuhllehne und streckte dabei den Arm über ihre Schulter aus, um ihre Hand zu ergreifen. Und dann übergab er sich.
Übergab sich auf ihr Haar, ihre Schulter, ihren Arm und ihr ganzes braun-weiß kariertes Kleid.
Er war noch immer dabei, alles von sich geben, als sein wutschäumender Vater ihn aus dem Zimmer zerrte und eine etwas konsternierte Gesellschaft zurückließ.
*
Es war ein lichter, klarer Augustmorgen, etwas kühler als die vergangenen Tage, als die leichte Kalesche, in der Kate und ihr Vater saßen, die Bostoner Landstraße entlangrollte. Hinter ihnen ertönte Kanonendonner. Die Bürger von New York verabschiedeten sich von Andrew Hamilton, der in die andere Richtung nach Philadelphia aufbrach, mit einem förmlichen Salut – ob’s dem Gouverneur nun passte oder nicht.
»Ha«, sagte ihr Vater befriedigt. »Ein verdienter Salut. Diese Reise hat sich wahrhaft gelohnt, Kate, trotz des unglücklichen Zwischenfalls von gestern Abend. Es tut mir wirklich leid, mein Kind, dass du solches erdulden musstest.«
»Das war nicht schlimm, Vater«, erwiderte sie. »Ich habe durchaus schon erlebt, wie mein Bruder und meine Schwestern sich übergeben mussten.«
»Aber nicht so«, entgegnete er bestimmt.
»Er ist jung, Vater. Ich glaube, er ist außerdem
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