Im Reich der Löwin
auf den Knaben drosch er Geoffrey auf die Schulter und führte ihn in sein Zelt, um einige Unstimmigkeiten zu klären, während er Brustpanzer und Helm anlegte. Kaum hatte sich der Eingang hinter den beiden Männern geschlossen, ließ der Knabe die angehaltene Luft aus den Lungen entweichen und schalt sich einen Dummkopf. Was hatte ihn nur dazu bewogen, seinen gefährlich aufbrausenden Halbbruder so zu provozieren?, fragte er sich und wischte den Schweiß, der sich klebrig über seine Poren gelegt hatte, von der Stirn. Zwar fegte eine kühle Brise aus dem Norden über die blühende Landschaft der Grafschaft Yorkshire, doch die hoch am Himmel stehende Sonne schien an diesem Tag ihr Bestes zu geben. Während er noch überlegte, ob er auf Geoffrey oder Richard warten und ihre Befehle entgegennehmen sollte, tauchten die beiden wieder auf und stürmten heftig diskutierend – mit verbissenen Gesichtern – an ihm vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
Nicht sicher, was von ihm erwartet wurde, zuckte Roland die Achseln, ließ sich auf einer der harten Bänke nieder und beobachtete das langsam verebbende Schlachtgetümmel aus sicherer Entfernung – stets bemüht, den Blick nicht zu den direkt vor den Toren aufgehängten, am Vortag gefangen genommenen Sergeanten abschweifen zu lassen. Wie die schlaffen Strohpuppen, welche die Ritter in ihren Übungskämpfen benutzten, baumelten die verstümmelten Kadaver der Verräter an den starken Hanfseilen im Wind. Es schien, als wollten sie der hin und her wogenden Schlacht, die um sie herum tobte, einen eigenwilligen Rhythmus verleihen. Schaudernd wandte Roland der grausigen Szene den Rücken und schlenderte in Richtung Waldrand davon. Keine Meile vor der Festung begann das undurchdringliche Dickicht des Sherwood Forest , über dessen lindgrünen Wipfeln einzelne Bussarde und Falken kreischend ihre Kreise zogen. Hie und da wurde das noch schüchterne Laubdach der Eichen und Buchen von den hoch aufragenden Wipfeln uralter Kiefern durchbrochen, in denen sich wahre Heerscharen von bedrohlich großen Saatkrähen versammelt hatten. Einige hundert Schritt von seinem eigenen Standpunkt entfernt erspähte er den rotblonden Schopf seines Bruders, der vor Robin of Loxleys Unterkunft ein Feuer entfachte. Ob der Empfang des Jüngeren ebenso unfreundlich verlaufen war wie sein eigener?, schoss es dem jungen Mann durch den Kopf. Doch bevor er die Schritte gen Osten lenken konnte, um den am Boden Knienden zu befragen, ließ ihn ein ohrenbetäubendes Donnern in seinem Rücken erschrocken herumwirbeln. In einer Lawine aus Staub und Schutt brach soeben der von dem unablässigen Geschosshagel zerstörte Befestigungsturm des Haupttores in sich zusammen. Und sobald sich der Schmutz gelegt hatte, stürmten die Männer des Königs in einer neuen Welle auf die immer schwächer werdenden Verteidigungsanlagen zu. Nicht gewillt, die Kapitulation der Verräter zu verpassen, eilte Roland ins Lager zurück, wo er sich – als der Kampf sich zu seiner maßlosen Enttäuschung erneut in die Länge zog – damit beschäftigte, die von den Zinnen stürzenden Männer zu zählen und die Wappen der Kämpfer ihren Herren zuzuordnen.
Im Verlauf des langen Tages trafen auch der Bischof von Durham und die siegreichen Belagerer von Tickhill Castle , das wie Nottingham eine der letzten Bastionen John Lacklands gewesen war, mit ihren Geiseln ein, um die Armee vor den Toren der Festung zu verstärken. Der Widerstand der Eingeschlossenen schien darauf zu fußen, dass sie die Rückkehr von Richard Löwenherz für ein geschickt gestreutes Gerücht hielten. Als sie jedoch der gewaltigen Übermacht gewahr wurden, schickten sie nach kurzer Beratung zwei Männer ins Lager der Angreifer. Diese sollten sich offenbar davon überzeugen, dass es wirklich der König war, welcher die Streitmacht anführte. Während Richard in aller Gemütsruhe das von seinen Jägern erlegte Wildbret zum Abendessen genoss, lagen die beiden abgesandten Ritter, Roger de Montbegon und William de Wenneval, vor ihm und der neben ihm thronenden Aliénor von Aquitanien auf den Knien und harrten gebannt einer Antwort. Mit blumigen Worten versicherten sie, dass die übrigen Verteidiger Nottingham Castle s königstreue Männer waren und sich ihm auf Gnade und Ungnade ausliefern würden, sobald sie Kunde erhielten, dass es sich bei ihrem Bedränger tatsächlich um Löwenherz und nicht um einen der Feinde Lacklands handelte. »Viele Neider wollten Eurem
Weitere Kostenlose Bücher