Im Reich der Löwin
Löwenherz den adeligen Gefangenen gestattet, sich ihre Freiheit durch Entrichtung eines nicht zu verachtenden Lösegeldes zu erkaufen, wohingegen die Rebellen niedrigen Standes ohne viel Federlesens an den hastig zusammengezimmerten Galgen aufgehängt worden waren. Nur zwei Ausnahmen hatte er befohlen: Robert of Brito, der Bruder des Mannes, der sich geweigert hatte, für Richards Befreiung in Geiselhaft zu gehen, würde im Kerker von Nottingham Castle elendig verhungern; während der Sheriff von Nottingham, der gemeinsam mit Prinz John zahllose Gräueltaten an der unschuldigen Bevölkerung begangen hatte, von den Männern des Königs zu Tode geprügelt werden sollte. Der entblößte Rücken des Gemarterten glich bereits einem blutigen Brei, und an mehreren Stellen konnte man die helle Wölbung seiner Rippen erahnen. Als sich die dicken Lederknoten am Ende der Geißel erneut in sein Fleisch gruben, verlor der Gemarterte die Kontrolle über seine Blase und farbloser Urin rann an seinen nackten, von tiefen Wunden übersäten Beinen hinab, bevor er in dem von Blut und Tau feuchten Boden versickerte.
Mit einem Schaudern wandte sich Harold of Leicester seinem Freund Robin of Loxley zu, der sich soeben in den Sattel eines feurigen Rapphengstes schwang und Anstalten machte, der Jagdgruppe des Königs zu folgen, die im rosigen Licht der Morgendämmerung auf dem Weg in den dichten Wald war. Anders als der Freund bevorzugte Harold Stuten, und das ruhige, lohfarbene Tier, dessen Ohren leicht hin und her spielten, gab in der Hinterhand nach, als er es mit einem sanften Druck der Hacke zum Antraben bewegte. »Findest du nicht, dass du ein wenig hart zu dem Bengel warst?«, fragte er Robin, der dem jungen Henry Plantagenet einen letzten finsteren Blick nachschickte, als dieser mit gesenktem Haupt – sein Halbpony am Zügel hinter sich herziehend – kehrtmachte und ins Lager zurückschlich. »Ach was!«, winkte der lockenköpfige Robin ab, während ein Feixen die Grübchen in seinen Wangen vertiefte. »Besser er gewöhnt sich diese übersteigerte Heldenverehrung so schnell wie möglich ab!« Harold nickte. Vermutlich war es wirklich besser für den Jungen, wenn er seinen Dienstherrn als Robin of Loxley, einen Ritter des Königs, ansah und nicht als den legendären Robin Hood, der mit seinen Mannen den Sherwood Forest unsicher gemacht hatte. Da Robins älterer Bruder im Kampf gegen die Schergen Johns den Tod gefunden hatte, war Robin inzwischen Herr über die Dörfer im Umkreis des alten Rittergutes und somit ein unmittelbarer Vasall der Krone. Am Vortag, als Richard Löwenherz vor Nottingham Castle eingetroffen war, hatte er den Ritterschlag und das offizielle Pardon für die Gesetzesübertretungen erhalten, die er als Anführer der Bande begangen hatte.
»Ich kann es kaum erwarten, gegen John und Philipp zu ziehen«, vertraute er Harold an, der fröstelnd den Mantel enger um die Schultern zog, als die Gruppe in den Schatten des Waldrandes eintauchte. Das Weiß der letzten Schneehaufen wetteiferte mit der blendenden Blütenpracht der Bäume und einem Teppich aus Anemonen, Märzenbechern und Schneeglöckchen. Während die Reiter der aufgeregt bellenden Meute folgten, sog Harold gierig den würzigen Duft des Waldes ein. Überall brach sich das neue Leben Bahn, und obwohl immer noch der Geruch der Fäulnis über dem dunklen Waldboden lag, ließ die süße Note der Blumen erahnen, dass die Tage des Winters gezählt waren. Ungeachtet der Schönheit trampelten die Hufe der Jagdrösser das neue Grün nieder, als die Männer durch das dürre Unterholz brachen, um das von den Hunden aufgeschreckte Rotwild einzukreisen. »Dieser verdammte Franzose muss endlich in die Schranken gewiesen werden!«, setzte Robin nach einer kurzen Pause, in der er die Armbrust spannte, heftig hinzu. Keine hundert Fuß vor dem ersten Reiter glotzte ihnen ein prächtiger Zwölfender mit bebenden Flanken entgegen. Und bevor sich das Tier entscheiden konnte, ob es fliehen oder zum Angriff übergehen sollte, sank es von Dutzenden von Pfeilen und Bolzen durchbohrt zu Boden. Zufrieden senkte Robin die Waffe und wandte sich zu Harold um, der nach einem versonnenen Blick auf das erlegte Tier langsam nickte. »Ja«, gab er nachdenklich zurück. »Wenn Löwenherz die verlorenen Gebiete nicht bald zurückerobert, dann ist sein Einfluss auf dem Festland Geschichte.«
Frankreich, eine Festung an der Mayenne, Ende März 1194
Die von Hunderten von Kerzen erleuchtete
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