Im Reich der Löwin
Halle des trutzigen Donjons des Grafen de Maine war erfüllt vom Gelächter und Geplapper der geladenen Gäste, welche sich in kleinen Grüppchen unterhielten oder über die köstlichen Speisen hermachten, die der stolze Hausherr hatte auffahren lassen. Die speziell zu diesem Anlass aufgezogenen Wandteppiche erstrahlten in funkelnder Farbpracht und ließen die herausgeputzten Damen, die achtlos genug waren, sich in ihrer direkten Nähe aufzuhalten, blass und langweilig erscheinen. Überall warfen Prunkwaffen und Silberleuchter das Licht zurück und verliehen dem riesigen Raum einen beinahe überirdischen Glanz. Dieser Eindruck des Erhabenen wurde durch ein mächtiges Kruzifix unterstrichen, das von der schwindelerregenden Gewölbedecke herabhing. Ohne unnötig viel Zeit verstreichen zu lassen, hatte Jeannes Vater am Tag nach der Auseinandersetzung mit seiner Tochter ein Aufgebot zu dem benachbarten Arnauld de Touraine gesandt, um ihn von der Tatsache in Kenntnis zu setzen, dass die gehorsame junge Frau das Angebot des Grafen dankbar und demütig annahm und sich glücklich schätzen würde, am folgenden Sonntag Verlobung mit ihm zu feiern. Die Antwort darauf war unverzüglich eingetroffen – zusammen mit einem kostbaren Brautgeschenk für die Auserwählte. »Nimm es nicht so schwer, Kind«, hatte ihr vor Zufriedenheit strahlender Vater dem jungen Mädchen geraten. »Er wird ohnehin kaum zuhause sein, jetzt wo ein Krieg unmittelbar bevorsteht.«
Noch immer fiel es Jeanne schwer, ihn für den Verrat, den er in ihren Augen an ihr begangen hatte, nicht zu hassen. Und als sie an diesem Abend in ihrem kostbarsten, mit Goldfäden bestickten Gewand die gewundene Treppe in die Halle hinabschritt, um ihrem zukünftigen Gemahl offiziell zugeführt zu werden, schluckte sie nur mit Mühe die Tränen der Wut und der Ohnmacht, die ihr die Kehle zuschnüren wollten. Kaum hatte der Herr über die Touraine die gute Neuigkeit vernommen, hatte er einen rundwangigen Mönch aus einem nahen Kloster zu seinem zukünftigen Schwiegervater geschickt, damit dieser eine in ihrer Kostbarkeit kaum zu übertreffende Miniatur der jungen Dame anfertigen konnte, die bereits die Halle seiner Festung zierte. Mit Grauen dachte Jeanne an die vielen Stunden des Stillsitzens zurück, in denen der unbedarfte Geistliche sie mit seinem inhaltslosen Gewäsch über die Institution der Ehe an den Rand der Verzweiflung gebracht hatte, während sie nur mit Mühe dem Drang widerstanden hatte, sich an den unmöglichsten Stellen zu kratzen. Wie um die Erinnerung loszuwerden, strich sie sich mit den Fingerspitzen über die sorgsam gebogenen Wimpern und konzentrierte sich darauf, nicht auf den Saum des viel zu schweren, mit unzähligen Ziersteinen bestickten Gewandes zu treten. Kaum eine Woche war vergangen, seit ihr Vater ihr mit seiner Ankündigung die Unschuld geraubt und ihre kindlichen Träume zerstört hatte!, dachte sie müde und reckte möglichst unauffällig die Schultern, um den ziehenden Schmerz zu vertreiben, der sie immer noch an die Sitzungen mit dem Maler erinnerte. Irgendwie würde sie diesen Abend hinter sich bringen! Mechanisch erwiderte sie den Gruß einer Bekannten, während sie mit täuschender Leichtfüßigkeit Stufe um Stufe hinab auf ihr Schicksal zuschritt.
»Ah, meine Liebe«, überfiel sie der bereits angeheiterte Arnauld überschwänglich, kaum hatte sie den Absatz erreicht. »Da seid ihr ja!« Trotz des prunkvollen Surkots , mit dem er über seinen alles andere als flachen Bauch hinwegzutäuschen versuchte, und der perlenbestickten Coiffe auf seinem großen Kopf verrieten sowohl das fettige graublonde Haar als auch die aufgequollenen Züge, dass er genau dreimal so alt war wie seine vierzehnjährige Braut. »Lasst uns tanzen.« Ohne eine Antwort des Mädchens abzuwarten, grabschte er ihre schlanke Taille und schob sie auf die Tanzfläche zu, auf der bereits mehrere Paare einen Branle du Chandelier , den beliebten Lichtertanz, begonnen hatten. Ehe Jeanne begriffen hatte, wie ihr geschah, hatte er sich eine der dicken, roten Kerzen gegriffen, sich flüchtig vor der jungen Frau verneigt und ihre Linke unter die seine gelegt, derweil sich sein rechter Arm um ihre Schulter schlang. Wie im Traum folgten die Füße des Mädchens der komplizierten Schrittfolge, während sie verzweifelt bemüht war, den öligen Geruch, der von ihrem Tanzpartner ausging, nicht zu tief einzuatmen. Wie sollte sie eine Ehe mit diesem Widerling überleben?, fragte sie
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