Im Reich der Löwin
Taubheit immer weiter in ihrem Körper ausbreitete, starrte Jeanne blicklos auf das schlichte Kruzifix am Kopfende des Raumes, in dem sich die feuchte Kälte des Winters vermutlich selbst den Sommer über hielt. Ihr Körper steckte in einem aus grober Wolle gewobenen Novizinnengewand, das trotz des dünnen Unterhemdes so sehr kratzte, dass sie fürchtete, in wenigen Tagen wundgescheuert zu sein. Ein enganliegendes Gebende, das so straff geschnürt war, dass sie Mühe hatte, den Mund zu öffnen, verbarg ihre rotbraune Haarpracht, während ihre Füße in groben Schweinslederschuhen staken. Im Gegensatz zu den meist in Weiß gekleideten Schwestern, die vor ihr im Gebet auf den Knien lagen, wies ihr Habit ein schlammfarbenes Braun auf, das sie deutlich als Außenseiterin und Sünderin kennzeichnete. Ihre vor Kälte blauen Hände umklammerten krampfhaft den schlichten Rosenkranz, welcher ihr in dieser feindseligen Welt der stillen Vorwürfe einen merkwürdigen Halt gab. Hoch über ihr trafen die Rippen des schlichten Gewölbes aufeinander, doch selbst die Höhe vermochte, dem niederdrückenden Raum keine Atmosphäre der Luftigkeit zu verleihen. Neben den grob gezimmerten Kniebänken war der schmucklose Altar der einzige Gegenstand in der Kapelle, an deren Wänden sich nicht einmal Heiligenbilder befanden. Als sie den tadelnden Blick der neben ihr knienden Nonne auf sich spürte, senkte Jeanne hastig wieder den Kopf und bewegte murmelnd die Lippen in einem Gebet, das alles andere als von Herzen kam.
Das Unwohlsein, das sie bei dem Bankett am vergangenen Abend empfunden hatte, als sie wiederholt die grauen Augen des Königs auf sich gespürt hatte, war ohne Vorwarnung in Schrecken umgeschlagen: In dem Moment, in dem Aliénor von Aquitanien – begleitet von vier der nüchternen Ordensschwestern – sie kurz danach in ihrer Kammer aufgesucht hatte, um ihr zu befehlen, ihre Sachen zu packen und den Nonnen in die Abtei zu folgen. »Es ist die mildeste Bestrafung, die ich dem König abringen konnte«, hatte ihre Großtante nüchtern bemerkt, da Jeanne bei der Eröffnung, dass sie fortan hinter Klostermauern leben würde, in Tränen ausgebrochen war. »Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäret ihr beiden nicht so glimpflich davongekommen. Leugne es nicht«, hatte sie gewarnt, als Jeanne abwehrend die Hände gehoben hatte. »Ihr habt euch selbst verraten.« »Was ist mit Roland?«, hatte Jeanne schluchzend hervorgestoßen, während die heiligen Frauen – sie ignorierend – die nötigsten Dinge in eine kleine Truhe geworfen hatten. Aber Aliénor hatte ihr mit einer energischen Geste den Mund verboten und streng verkündet: »Du solltest ihn am besten vergessen.« Das Band, das sich bei dem Gedanken an Roland um ihr Herz legte, drohte Jeanne die Luft abzuschnüren. Nur mühsam gelang es ihr, das Zittern ihrer Hände vor den argwöhnischen Blicken der Schwestern zu verbergen. Demut und Gehorsam würde sie hinter den mächtigen Mauern des Klosters lernen, hatte ihr die Äbtissin prophezeit, als sie kurz nach ihrer Ankunft in deren Kammer im obersten Stock des Wohngebäudes geführt worden war. »Die Regeln sind streng, aber einfach«, hatte sie Jeanne mit einem deutlichen Blick gewarnt. »Ihr haltet Euch besser daran.« Als eine Glocke das Ende des Gebets verkündete, schluckte die junge Frau mühsam ihre Trauer und folgte den in ihrer Tracht identisch wirkenden Gottesdienerinnen in das Refektorium , in dem ein einfaches Mahl aus Haferbrei und dünnem Cidre auf sie wartete. Von Berengaria von Navarra, die sich ebenfalls in den Schutz der Anlage zurückgezogen haben sollte, war weit und breit nichts zu sehen. Weshalb Jeanne vermutete, dass sie – wie so manche Edeldame vor ihr – den südlichen Trakt des Klosters bewohnte, der Privatpersonen vorbehalten war. Wenn sie sich doch nur mit ihr unterhalten könnte!, dachte sie verzweifelt. Vielleicht könnte die Königin ein gutes Wort bei ihrem Gemahl einlegen und ihn dazu bewegen, die Strafe aufzuheben. Als sie auf einen harten Klumpen biss, verzog sie angeekelt das Gesicht, legte den Löffel nieder und starrte auf die gesenkten Häupter der schweigenden Versammlung. Aber vermutlich würden ihre Aufpasser alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um sie von der Außenwelt abzuschneiden!
Frankreich, Herzogtum Bretagne, Ende Februar 1196
»Aber Mutter!« Die dunklen Augen des neunjährigen Prinzen Arthur glänzten verdächtig, als er bittend zu seiner in warme Reisegewänder
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