Im Reich der Löwin
gehüllten Mutter aufblickte, die ihn soeben energisch in die Schranken gewiesen hatte. »Keine Diskussion«, schalt die blonde Bretonin und schlug den Kragen ihres Umhangs hoch, sodass der warme Fellbesatz ihren Hals umschmeichelte. »Du bleibst hier!« Wer weiß, was für ein Ränkespiel dein Onkel Richard im Sinn hat, dachte sie. Doch diesen Gedanken verbarg sie wohlweislich vor ihrem Sohn, der durch seine Ernennung zum Erben des englischen Throns zur Zielscheibe der Machtgier einer ganzen Handvoll einflussreicher Männer geworden war. Nicht nur misstraute sie ihren ehemaligen Schwägern, Richard Löwenherz und John Lackland. Auch der französische König Philipp und ihr in England lebender Gemahl, Ranulf of Chester, genossen nicht gerade ihr Vertrauen. Jeder dieser Männer musste ein Interesse daran haben, den Knaben in seine Gewalt zu bringen, weshalb sie den Stab seiner Beschützer verdoppelt hatte. »Ich bin bald zurück«, versprach sie, beugte sich zu dem Jungen hinab und drückte ihm einen Kuss auf die kalte Stirn, die er augenblicklich mit dem Handrücken abwischte. Ach, mein Sohn, dachte sie wehmütig. Möge Gott dich vor dem Hass und der Habgier deiner Mitmenschen beschützen! Mit einem letzten Blick auf ihren Sohn verließ sie die Halle ihrer Festung in Nantes und trat in den schneebedeckten Hof hinaus.
Immer noch ein wenig verwundert über das erst vor wenigen Tagen geänderte Reiseziel, schlug sie mit ihren Begleitern den Weg nach Norden ein, um sich in Richtung Normandie aufzumachen. Richard Löwenherz würde sie – laut der versiegelten Nachricht, die ein durchgefrorener Bote ihr überbracht hatte – in Rouen empfangen. Zwar hatte sie sich zuerst über diese Änderung gewundert. Doch da das Schreiben das Siegel der Plantagenets trug, nahm sie an, es handele sich um eine Maßnahme, die ihre Sicherheit gewährleisten sollte. Während sie schweigend – umringt von zwei Dutzend Panzerreitern – im Tölt durch die frostklirrende Landschaft ritt, ließ sie die Gedanken zu dem Bruder ihres verstorbenen Gatten wandern. Schon bei ihrer Vermählung mit Geoffrey Plantagenet hatte Richard Löwenherz ihr Unbehagen eingeflößt, da sie die gesamte Zeremonie über das Gefühl gehabt hatte, dass seine kalten grauen Augen bis direkt auf den Grund ihrer Seele blickten. Er war ein kühl kalkulierender Machtmensch, der – wenn es die Lage erfordern sollte – ohne mit der Wimper zu zucken, über die Leichen derjenigen gehen würde, die ihm vertrauten! Fröstelnd zog sie die Schultern nach vorne, um sich vor dem eisigen Ostwind zu schützen, und ließ sich vom Takt der Pferdehufe in den Bann ziehen. Nur einmal machte die Gruppe bei einer kleinen Abtei halt, um eine hastige Mahlzeit zu sich zu nehmen. Als die Dämmerung sich schwer über die Landschaft zu senken begann, tauchten bereits die ersten Dächer der Grafschaft Anjou am Horizont auf.
»Wir sollten die Nacht hier verbringen«, meldete sich der Anführer des Begleittrupps zu Wort. Aber bevor Konstanze ihm eine zustimmende Antwort geben konnte, lösten sich aus den immer tiefer werdenden Schatten der Bäume die Umrisse von mindestens fünfzig Berittenen, die sich ihnen mit klirrendem Geschirr näherten. Wie aus dem Nichts schienen die mit schweren Rüstungen bewehrten Reiter vor der Gruppe aufzutauchen. Der inzwischen wieder dichter fallende Schnee verwischte ihre Umrisse dergestalt, dass es auf den ersten Blick wirkte, als hätten sie die mythische Grenze der anderen Welt überschritten. Außer dem Schnauben der heftig stampfenden Schlachtrösser war einige Atemzüge lang kein Laut zu hören. Doch dann löste sich die Erstarrung der überraschten Ritter und ihr Anführer hob warnend die Hand, um den Fremdlingen, die sie langsam umzingelten, Einhalt zu gebieten. »Wer seid Ihr?«, donnerte er. Aber außer den Geräuschen der Tiere schlug ihm weiterhin Schweigen entgegen. Kurz davor, sich zu erkennen zu geben, um die offensichtlich feindlich gesinnten Männer vor einem folgenschweren Fehler zu bewahren, atmete die bretonische Herzogin erleichtert auf. Einer der letzten schwachen Lichtstrahlen hob das Wappen auf der Brust eines der fremden Ritter in leuchtenden Farben hervor: Auf einem feurig roten Grund prangten drei prachtvolle gelbe Löwen, die ihre Pranken wie inmitten eines Sprungs weit von sich streckten. Eine Eskorte! Die Erleichterung, die ihr bei dieser Erkenntnis durch die Glieder fuhr, war beinahe greifbar. Doch kurz darauf schlug ebendieses Gefühl
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