Im Reich der Löwin
in kaltes Grauen um, als sie den Krieger, dessen prächtiges Ross ihn als Ranghöchsten der Gruppe auswies, genauer musterte. Halb verdeckt vom breiten Nasenschutz blitzten ihr die harten Augen ihres entfremdeten Gemahls Ranulf of Chester entgegen. Während ihre Hand reflexartig an den Mund zuckte, stieß sie flüsternd hervor: »Ihr? Wie kann das sein?«
Anstelle einer Antwort gab der Earl of Chester seinen Leuten ein Zeichen, den Kreis um die Begleiter seiner Gattin zu schließen und die Schwerter zu ziehen. Bevor Konstanze begriffen hatte, was vor sich ging, waren ihre Beschützer entwaffnet und einer der falschen Männer des Königs hatte den Zügel ihres Zelters ergriffen, um zu verhindern, dass sie einen Fluchtversuch unternahm. »Ihr dachtet wohl, Ihr könntet Euch für immer vor mir verbergen?«, fragte Ranulf zynisch. »Und mir die Einkünfte Eures Herzogtums vorenthalten?« Er lachte freudlos und lenkte seinen Schimmelhengst dicht an ihren Wallach, um sie hart am Kinn zu fassen. »Da habt Ihr Euch leider geirrt, meine Liebe«, zischte er. »Ihr seid meine Gefangene!« Ohne auf eine Antwort der Herzogin zu warten, ließ er sie wieder los, wendete sein Ross und gab seinen Rittern ein Zeichen, die Bretonen in Richtung Norden zu treiben, wo an der Küste ein Schiff darauf wartete, sie nach England überzusetzen. Einer Gänseschar gleich trabten die entwaffneten Panzerreiter – flankiert von ihren Bezwingern – auf das vor ihnen liegende Dorf zu. Dort folgten ihnen die neugierigen Augenpaare der Bewohner, bis sie in einem nahen Gehölz verschwunden waren. Wie raffiniert!, dachte Konstanze voller widerwilliger Bewunderung, als ihr das ganze Ausmaß des verschlagenen Plans ihres Gemahls bewusst wurde. Ohne Zweifel würden die Bauern bezeugen, dass es Richard Löwenherz’ Männer gewesen waren, welche die Herzogin der Bretagne und ihre Begleiter entführt hatten, wenn ihr Verschwinden bekannt wurde. Wie unglaublich raffiniert!
Im Umland von Tours, Ende Februar 1196
Einen halben Tag und eine Nacht später ließ etwa drei Tagesritte weiter östlich – im Umland von Tours – das Surren von Armbrustbolzen den Eindruck eines wütenden Hornissenschwarms entstehen, der sich trotz der Kälte in ein weitläufiges Waldstück am Ufer der Loire verirrt hatte. Angetrieben von einem beinahe schmerzhaften Drang zu töten, preschte Mercadier, der sich der Jagdgruppe um William Marshal angeschlossen hatte, allen voran den ausgetretenen Pfad entlang, an den abweisenden Mauern der Abtei Marmoutier vorbei. Immer dem weißen Spiegel des elegant über alle Hindernisse hinwegsetzenden Damhirsches hinterher, dessen getupftes Fell wirkte, als habe der Schnee es gezeichnet. Er entfernte sich zusehends von den anderen Jägern, die ihre Beute inzwischen erlegt hatten. Aber wenngleich der Abstand, den das elegante Tier bereits zwischen sich und seinen Verfolger gebracht hatte, es nahezu unmöglich machte, dass die Jagd des Normannen von Erfolg gekrönt sein würde, grub Mercadier seinem Hengst die Sporen noch härter in die Flanken. Weit über die Mähne des Pferdes gebeugt, ignorierte er die ihm ins Gesicht peitschenden Fichtenzweige, und als seine Beute ein weiteres Mal einen Haken schlug, reagierte er im Bruchteil einer Sekunde. Trotz des wiehernden Protestes seines Jagdrosses hieb er diesem mit dem Zügel über den Hals, zwang es zum erneuten Angaloppieren und preschte über eine verschneite Wiese. An deren nördlichem Ende zeichnete sich ein bescheidenes Rittergut vor dem grauen Horizont ab.
Vor ihm schien der prächtige Zwölfender aus unerklärlichem Grund ins Straucheln geraten zu sein, was einen erneuten Schub Jagdfieber durch Mercadiers Adern sandte. Kleiner und kleiner wurde der Abstand zwischen ihm und dem wild mit den Hufen rudernden Tier, und er wollte bereits die Armbrust an die Schulter heben, als sein Pferd unter ihm nachgab und in die Knie brach. Mit einem wüsten Fluch auf den Lippen verlor der Normanne die Steigbügel und schlug keine zwei Augenblicke später auf der spiegelglatt vereisten Fläche auf. Verborgen von einer fünf Zoll dicken Schneedecke, brachte der im Sommer sumpfige Untergrund dem Hirsch die Rettung, da dieser inzwischen wieder festen Boden erreicht hatte und in einer Wolke aus Schnee und Raureif davonstob. »Verflucht«, schimpfte der Normanne, während seine schwarzen Augen die Flucht des Jagdtieres verfolgten, das in diesem Moment den Schutz des Waldes erreichte. »Was für ein Mist!« Mit
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