Im Reich der Löwin
verächtlich aus und trat einen Schritt zurück, um Roland ebenfalls Gelegenheit zu geben, die Klinge zu blecken. Wie gelähmt vor Panik, sah der Knabe die eigene Hand zum Griff des Dolches fahren, diesen mit einem Übelkeit erregenden Geräusch aus der Scheide befreien und ungeschickt vor die Brust heben, um den Hieb seines Bruders abzuwehren. Als dieser kam, war er so schnell, dass Roland erst begriff, was geschehen war, als ihm ein stechender Schmerz durch die Schulter zuckte und Richard Löwenherz den blutigen Stahl zurückzog. Kaum hatte sich der Junge von seinem Schrecken erholt, als die Waffe erneut sein Fleisch fand und einen zwei Hand langen Schnitt auf seiner Brust zurückließ, über dem der hellbraune Stoff seines Surkots aufklaffte und sich augenblicklich mit Blut vollsog. Zischend zog Roland die Luft durch die Zähne. Trotz des durchdringenden Schmerzes war er geistesgegenwärtig genug, dem nächsten Hieb auszuweichen und einen Schritt nach links zu stolpern. Zwar verfehlte ihn so der gefährlich nah an seinem Ohr vorbeisausende Dolch. Aber ein kleines eisenbeschlagenes Kästchen am Fußende der Bettstatt brachte ihn ins Straucheln und ließ ihn wenig elegant zu Boden gehen. Noch während des Falls nahm er aus dem Augenwinkel wahr, wie Richard Löwenherz sich in seine Richtung bewegte. Und als sein Ellenbogen krachend auf dem harten Boden aufschlug, spürte er bereits, wie sich die Hand seines Bruders in sein Haar grub.
Mit einem groben Ruck riss der König den Kopf des Knaben nach oben, sodass dieser in eine halb sitzende Position gezwungen wurde, und legte ihm die Waffe an die Kehle. Während das Blut in seinen Ohren rauschte, bohrte sich Rolands Blick in die Augen seines Bezwingers. Wenngleich er sich vor Furcht um Haaresbreite die Beinlinge nass gemacht hätte, ließ ihn der Ausdruck, den er darin lesen konnte, den Atem aus den stechenden Lungen stoßen. Unter dem Zorn glomm von Hochachtung überlagerte Enttäuschung, die nur mit Mühe Richards Verwunderung verschleiern konnte. Einige dröhnende Herzschläge lang starrten sich die beiden Brüder wortlos an, bevor Löwenherz den jüngeren mit einem freudlosen Lächeln fahren ließ, sich die Hände an dem blutbesudelten Surkot abwischte und fassungslos feststellte: »Du bittest nicht einmal um dein Leben!« Er schüttelte den Kopf und trat an das bunt verglaste Fenster. »Ich hätte nicht gedacht, dass es einen größeren Sturkopf geben könnte, als unser Vater es war«, brummte er, während Roland Anstalten machte, sich aufzurappeln. »Aber du machst ihm alle Ehre!« Mit einer steilen Falte auf der Stirn wandte er sich nach einigen Augenblicken des Schweigens um und musterte seinen Bruder, der soeben mit schmerzverzerrter Miene auf die Beine kam. »Ein anderer hätte sein Leben verwirkt«, stellte er nüchtern fest und begann, sein Übergewand abzulegen. »Aber du hattest eine mächtige Fürsprecherin.« Erstaunt öffnete Roland den Mund, wagte jedoch nicht, etwas darauf zu erwidern, da der König ihm offensichtlich einen Vortrag zu halten gedachte.
Als Surkot und Waffengürtel in der dafür vorgesehenen Truhe verstaut waren, trat Richard erneut auf Roland zu, der trotz der immer noch düsteren Miene seines Bruders keinen Zoll vor diesem zurückwich. Einen Augenblick lang musterte der König ihn streng, bevor er mit einem Knurren feststellte: »Wie soll ich dich jemals zu einem Edelmann erziehen, wenn du nicht einmal die einfachsten Regeln akzeptieren willst?« Er seufzte. »Selbst als Bastard unseres Vaters hast du eine gewisse Verantwortung zu tragen«, belehrte er den erstaunt zu ihm aufblickenden Roland. »In deiner Position kann man sich nun einmal nicht aussuchen, wen man heiratet!« Lediglich, wen man liebt, setzte er in Gedanken hinzu, ließ diese Weisheit jedoch unausgesprochen. »Wenn dir das Wohl des Mädchens am Herzen liegt«, fuhr er nach einem kurzen Moment in schärferem Ton fort, »dann wirst du dich in Zukunft in deine Bestimmung fügen!« Roland schluckte. »Denn wenn du nicht schleunigst lernst, zu gehorchen und Opfer zu bringen, kannst du bis zum Jüngsten Tag auf den Ritterschlag hoffen.« Mit diesen Worten wandte er dem erbleichten Knaben den Rücken und brummte barsch: »Verschwinde, ich brauche dich heute nicht mehr.« Als Roland Anstalten machte, dem Befehl zu folgen, setzte der König noch knapp hinzu: »Du wirst sie nie wiedersehen. Sie wird noch heute Abend ins Kloster gebracht.«
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Während sich die
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