Im Reich der Löwin
überblickte. »Lasst sie gehen, Mercadier«, befahl er angewidert. »Seht Ihr denn nicht, dass sie vor Angst halb tot ist?« Als der Normanne dem Befehl widerstrebend Folge leistete, trat er auf das vollkommen erstarrte Mädchen zu und zog es auf die Beine. »Lauf nach Hause«, sagte er sanft und übergab sie einem seiner Männer. Dann wandte er sich zornig dem breitschultrigen Ritter zu. »Was habt Ihr Euch dabei gedacht?«, fauchte er. »Es herrscht Frieden!« Ungerührt betrachtete der Normanne den graubärtigen Earl of Pembroke einen Augenblick lang, bevor er mit einem verächtlichen Schulterzucken den Dolch in den Gürtel zurücksteckte, die schmalen Lippen zu einem spöttischen Lächeln verzog und kühl versetzte: »Ein kleiner Zeitvertreib hie und da …« Er ließ den Satz unbeendet. Kopfschüttelnd starrte William Marshal ihm hinterher, als er mit langen Schritten und gestrafften Schultern die Scheune verließ. Erst dann begab auch er selbst sich zurück zu der Jagdgesellschaft und schwang sich in den Sattel seiner Stute. Mercadier, der nun auf einem der Ersatztiere thronte, die bei solchen Ausflügen stets mitgeführt wurden, schien den Zorn über die Unterbrechung bereits vergessen zu haben, da er sich angeregt mit einem Baron aus dem Norden Englands unterhielt, der soeben lachend den Kopf in den Nacken warf. Mit gerunzelter Stirn hob William Marshal die Zügel vom Hals seines Pferdes auf, versetzte ihm einen leichten Schlag auf die Hinterhand und trabte an. Die Männer begannen, sich zu langweilen! Wenn nicht bald etwas geschah, würde der Frieden zwischen Richard und Philipp die Bevölkerung teuer zu stehen kommen. Denn nichts war schlimmer als gelangweilte Kämpfer! Wenn er gewusst hätte, wie schnell sein Wunsch in Erfüllung gehen sollte, hätte er sicherlich anders gedacht. Denn in dem Augenblick, in dem seine Stute in den verschneiten Wald eintauchte, galoppierte je eine Gesandtschaft aus der Bretagne in Richtung Poitiers und Paris, um Richard Löwenherz die Treue zu kündigen und Philipp von Frankreich um Hilfe anzurufen.
Poitiers, Abtei Sainte-Croix, Ende Februar 1196
»Bitte«, flehte Jeanne eindringlich und drückte der Küchenmagd das einzige Schmuckstück, das ihr geblieben war – ein silbernes Kruzifix – in die Hand. »Um diese Zeit ist er meistens im Stall zu finden.« Das kaum zehnjährige, selbst unter den viel zu großen Gewändern abgemagert wirkende Mädchen ließ ein letztes Mal den Blick zu der verlockend zwischen Jeannes Fingern baumelnden Kette wandern. Dann schluckte es trocken, drehte die Handfläche nach oben und ließ sowohl das Geschmeide als auch den versiegelten Brief in den Falten seines fadenscheinigen Rockes verschwinden. »Wenn mich die Heiligen Schwestern dabei erwischen.« Ein Schauer lief durch ihren Körper, als sie sich die Bestrafung ausmalte, die sie erwarten würde, wenn eine der strengen Bewohnerinnen des Klosters herausfand, dass sie trotz des ausdrücklichen Verbotes der Äbtissin eine Nachricht des Edelfräuleins aus der Abtei geschmuggelt hatte. Mit einem vorsichtigen Blick über die Schulter verabschiedete sie sich stumm von Jeanne, die ihr voller Sorge hinterherblickte. Über vier Wochen war sie nun bereits hinter den verhassten Mauern der Anlage gefangen. Und mit jedem Tag, den um sie herum der Frühling erste Anstalten machte, den kalten, feuchten Winter zu vertreiben, schmerzte ihr Herz mehr. Je mehr sie sich bemühte, sich Rolands Gesichtszüge in Erinnerung zu rufen, desto mehr schienen diese zu verblassen. Auch das Gefühl seines Körpers auf dem ihren ließ sich kaum mehr heraufbeschwören. Wenn sie ihn nicht bald in Fleisch und Blut vor sich sah, würde sie den Verstand verlieren bei dem Versuch, ihn in ihrer Erinnerung festzuhalten! Manchmal verbrachte sie Stunden damit, sein Gesicht Zoll für Zoll vor ihrem inneren Auge abzutasten. Doch meist drängten sich früher oder später die hässlichen Steinquader, die sie als Hintergrund für diese Tagträume benutzte, in den Vordergrund und das unentwegte Gemurmel der betenden Nonnen rief sie in die Gegenwart zurück.
Mit einem leisen Seufzer machte sie kehrt, um den ausgetretenen Weg zurückzugehen und die Fingerkuppen über den rauen Stein der Säulen gleiten zu lassen. Es war beinahe, als ob die Momente der unbeschwerten Freude, die sie miteinander geteilt hatten, nur in ihrer Phantasie existiert hätten! Erneut zog sich das Band, das seit ihrem Eintritt in die Klosteranlage ihr Herz nicht
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