Im Reich der Löwin
enttäuschtes, halb zufriedenes Raunen durch die Reihen der Londoner. All das blieb Guillaume of Huntingdon erspart, da er beim Splittern des ersten Knorpels die Besinnung verloren hatte. John Lackland würde ein Wort bei Richard Löwenherz für ihn einlegen! Das waren die letzten Gedanken, die ihm durch den dröhnenden Kopf schossen, bevor sich die Schwärze über seine Sinne legte und ihn von dem grausigen Schauspiel befreite.
Herzogtum Bretagne, März 1196
Wie ein Wirbelsturm war die Streitmacht des englischen Königs durch die Bretagne gefegt, hatte Städte und Dörfer, die sich dem erzürnten Löwenherz nicht sofort ergeben hatten, niedergewalzt und stand nun – nach kaum zweiwöchigem Feldzug – kurz vor den Mauern der mächtigen Festung in Nantes. Auf den Zinnen flatterte das Banner des Herzogtums, ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund, im kühlen Nordwind. Zwar trugen die Hügel noch das Gewand des Winters, doch ließen sowohl die schüchtern zwischen den schmelzenden Schneehaufen aufblitzenden Anemonen als auch der immer weicher werdende Boden darauf schließen, dass der Frühling nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Eine tief hängende Sonne stach von dem beinahe wolkenlosen Himmel und blendete die auf die Festung zupreschenden Engländer, an deren Spitze wie so oft der König selbst galoppierte. Bemüht, nicht den Anschluss zu verlieren, beugte auch Roland sich tiefer über den Hals seines Apfelschimmels und schloss zu der gefährlich ausgreifenden Hinterhand des königlichen Schlachtrosses auf. Diesem schien auch heute das immense Gewicht seines gepanzerten Reiters nicht das Geringste auszumachen. Wie immer warf Richards Rüstung das Licht der Sonne in gleißenden Facetten zurück. Und hätten nicht Wappenrock und Schwertgürtel einen Großteil des Brust- und Rückenpanzers verdeckt, wäre der Eindruck entstanden, der englische König reite inmitten eines Strahlenkranzes.
Beim Herannahen der gewaltigen Armee öffneten die Einwohner der Stadt, ohne zu zögern, die starken Tore, um dem gefürchteten Krieger ungehinderten Zugang zu gewähren. Dies bewirkte, dass Richard Löwenherz mit einem knappen Befehl jegliche Übergriffe auf die Bretonen unter Androhung der Todesstrafe untersagte. Kaum hatte der Hauptteil der Streitmacht die Stadtmauer hinter sich gebracht, wies er die beiden Flügel an, den mit veralgtem Wasser gefüllten Burggraben zu säumen, um so der Garnison im Inneren der Festung jeglichen Fluchtweg abzuschneiden. Sobald die Engländer den Kreis um die Burg geschlossen hatten, erschien eine Gruppe bewehrter Männer auf den Zinnen oberhalb der Zugbrücke, aus deren Mitte sich ein graubärtiger Ritter löste, der mit gesenktem Haupt eine weiße Fahne an zwei Eisenringen in der Mauer befestigte. Wozu diese wohl in Friedenszeiten verwendet wurden?, fragte Roland sich. Doch die dröhnende Stimme des Königs ließ ihn den Blick zu seinem Halbbruder heben, der den Eingeschlossenen barsch zu verstehen gab, dass ihre Kapitulation angenommen sei. Wenig später senkte sich die Zugbrücke und die Engländer setzten in einer sechs Mann starken Reihe darüber – die Lanzen im Anschlag, um gegebenenfalls auf einen Hinterhalt reagieren zu können. Dumpf hallte der Tritt der eisenbeschlagenen Hufe von den mächtigen Mauern der Ringburg wider, als die Krieger in den beinahe kreisrunden Innenhof einritten. Dort erwartete eine Delegation bretonischer Adeliger den König und seine Mannen. Mit einem leichtfüßigen Satz sprang Richard Löwenherz aus dem Sattel und trat auf den Ranghöchsten der Hüter des jungen Prinzen Arthur zu, der ehrerbietig vor dem englischen König auf ein Knie sank. »De Tréguier«, bellte er, als er den Bretonen als einen der Männer seines verstorbenen Bruders Geoffrey erkannte, ohne Umschweife. »Wo ist mein Neffe?« Wenngleich der Ritter sich um eine ausdruckslose Miene bemühte, sah Roland die Farbe aus seinen Wangen weichen, als dieser mit nur mühsam beherrschter Stimme erwiderte: »Sire, auf Befehl seiner Mutter, Eurer Schwägerin Konstanze, befindet sich Euer Neffe auf dem Weg an den Hof in Paris.«
Mit angehaltenem Atem verfolgte der Knabe, wie Richards Rechte zum Knauf seines Langschwertes zuckte. Das Geräusch, mit dem er es aus der Scheide befreite, wirkte in der plötzlichen Totenstille unheimlich laut. Ohne mit der Wimper zu zucken, setzte der König dem Knienden den Stahl aufs Herz. Als sich die Spitze der Waffe in das Surkot des Mannes bohrte, fuhr
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