Im Reich der Löwin
Rolands eigene Hand unbewusst zu der inzwischen verheilten, vom Dolch seines Halbbruders geschlagenen Wunde auf seiner Brust. Die Stelle, an der die Klinge seinen rechten Brustmuskel verletzt hatte, schmerzte nur noch manchmal. Doch im Vergleich zu den seelischen Qualen, die Roland in den vergangenen sechs Wochen hatte ertragen müssen, war dieser Schmerz ihm beinahe willkommen. »Steht auf«, gebot der König dem Bretonen, woraufhin dieser sich – sichtlich bemüht, die Fassung zu wahren – auf die Beine stemmte, um seinem Schicksal in die Augen zu blicken. »Ich sollte Euch den Kopf abschlagen«, brummte Löwenherz mürrisch, ließ jedoch die Waffe sinken und trat einen Schritt zurück. »Aber das kann ich später immer noch tun.« Mit einer herrischen Kopfbewegung gab er seinen Rittern den Befehl, die Bretonen zu ergreifen und befahl: »Sperrt sie ein! Findet heraus, welchen Weg der Prinz genommen hat und durchsucht die Festung!« Mit diesen Worten stürmte er allen voran die breite Treppe zur Eingangshalle hinauf und verschwand in dem Durchgang zum Hauptgebäude, über dem ein beinahe kläglich wirkender Wasserspeier sein hässliches Haupt über den Abschlussstein reckte. Da er keinen anderweitigen Befehl erhalten hatte, nahm Roland die Zügel der beiden Pferde kürzer, wandte sich nach Osten, wo er die Stallungen vermutete, und führte die schnaubenden Tiere über den Hof auf einen flachen Gebäudekomplex zu.
Nachdem er sie in zwei der leerstehenden Boxen versorgt hatte, eilte er in Richtung Hof davon, um sich an der Suche nach dem jungen Prinzen Arthur zu beteiligen. Was Richard wohl mit dem Knaben vorhatte?, fragte er sich nicht zum ersten Mal, seit sie aus Poitiers aufgebrochen waren. Aber diese Frage wurde im Verlauf seiner halbherzigen Suche bald von den immer noch kaum erträglichen Gedanken an Jeanne verdrängt. Nacht für Nacht schreckte er schweißgebadet aus einem immer wiederkehrenden Albtraum auf, in dessen Verlauf sich die junge Frau innerhalb weniger Monate in eine zahnlose alte Hexe verwandelte, die er nur an ihren immer noch strahlend schönen, grünen Augen erkannte. In diesen waren so viel Hoffnungslosigkeit und Furcht zu lesen, dass es ihm das Herz im Leibe zerreißen wollte. Lustlos drückte er die Klinke zu einer der verlassen daliegenden Kammern, deren verspielte, farbenprächtige Einrichtung darauf schließen ließ, dass sie bis vor Kurzem einer edlen Dame Unterkunft gewährt hatte. Da der Gesuchte auch hier nicht zu finden war, kehrte er dem Gemach nach wenigen Augenblicken den Rücken und schlenderte den Korridor entlang, um weiter über sein Schicksal nachzugrübeln. Da Richard ihm klar und deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass jeglicher Versuch seinerseits, mit Jeanne in Kontakt zu treten, das Leben des Mädchens gefährden würde, hatte er schließlich die trotzigen Pläne verworfen. Er versuchte, die erzwungene Trennung als das zu sehen, was sie vermutlich war: als eine Prüfung seines Charakters. Wenn er sich des Vertrauens und der Hochachtung seines Bruders würdig erwies, ihm treu und ergeben diente, so wie es sich für einen zukünftigen Vasallen der Krone ziemte, würde dieser vielleicht bereit sein, ihm den einen Wunsch zu erfüllen, den er bis an sein Lebensende nicht aufgeben würde!
Wenn er sich im Kampf auszeichnete und den Ritterschlag erhielt, konnte er Richard vielleicht dazu bewegen, ihm seinen Ungehorsam zu verzeihen und die Strafe gegen ihn und Jeanne aufzuheben. Er seufzte und schluckte die gegen seinen Willen erneut in ihm aufsteigende Verzweiflung. Doch bis dahin würde er viel Geduld und Zähigkeit aufbringen müssen! Müde stützte er die Hände auf eines der Fensterbretter und starrte hinab in die Tiefe, wo sein Bruder Henry und sein ehemaliger Nebenbuhler, Ludwig von Blois, in trauter Zweisamkeit einen der kleineren Höfe durchmaßen. Auch das war eine Entwicklung, an der er noch eine Weile schwer zu kauen haben würde! Zwar stellte der eitle Ludwig nun keine Gefahr in Hinsicht auf die Dame seines Herzens mehr dar. Doch hatten sich in den vergangenen Wochen die Befürchtungen bestätigt, die er Henry betreffend schon kurz nach ihrem Aufbruch aus England gehegt hatte. Schon bald nach dem furchtbaren Streit mit Richard Löwenherz hatte er die beiden jungen Männer in einer Laube im Garten von Poitiers überrascht, in der Henry dem gutaussehenden, dunkelhaarigen Grafen sein Arthusepos vorgetragen hatte. »Nichts ist so schwer wie die Illusion der
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