Im Reich der Löwin
Festung nach nur wenigen Wochen bereits zu verzeichnen hatte. Neben den Fundamenten der Vorburg und der dazugehörigen äußeren Ringmauer waren auch die Grundsteine für die elliptisch geformte Innenanlage sowie für den an höchster Stelle zu errichtenden Donjon bereits gelegt. Um tote Winkel zu vermeiden, hatte Richard mit mathematischem Weitblick beschlossen, die äußere Mauer als Puffer für Katapultgeschosse zu konzipieren. Die aus einer Reihe von halbierten Zylindern zusammengesetzte Zitadelle würde potenziellen Angreifern jede Chance nehmen, Beschuss von gedeckten Positionen vorzunehmen. Eine frische Brise ließ den Rockteil des gelbroten Surkots um Rolands Beine flattern und zerzauste seinen schwarzen Schopf. Geistesabwesend strich er sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken, der von dem in der Luft liegenden Staub und Schmutz juckte, und blinzelte, da ihn das gleißend von den Metallwerkzeugen zurückgeworfene Licht blendete. Neben drei über zweiundsiebzig Klafter tiefen Brunnenschächten würde eine Vielzahl von Kellern dafür Sorge tragen, dass die Festung notfalls einer monatelangen Belagerung standhalten konnte. Und wenn der kühne Zeitrahmen, der dem englischen König zur Fertigstellung dieser gewaltigsten aller europäischen Festungen vorschwebte, eingehalten werden konnte, würde sich die Bauzeit bereits nach etwas über einem Jahr dem Ende nähern. In der Tat: Château Gaillard , das kecke Kastell! Roland lächelte. Während er Richard an dessen Krankenlager Gesellschaft geleistet hatte, war er von seinem Halbbruder in eine Vielzahl mathematischer Geheimnisse eingeweiht worden. Zu Beginn dieses Monats hatte er ihm schließlich die Überwachung des nach Vorbild der Kreuzfahrerburgen geplanten Baus übertragen, solange die Waffenruhe mit Philipp von Frankreich anhielt. Einerseits fühlte er sich durch das Vertrauen des Königs geschmeichelt. Andererseits keimten häufig Schuldgefühle in ihm auf, dass ihn dieses Unsummen verschlingende Unterfangen mit derartigem Eifer und einer solch ungehemmten Begeisterung erfüllte. Immer öfter ertappte er sich dabei, wie er voller tief empfundener Zufriedenheit die Pläne ein weiteres Mal überflog oder den Architekten und Steinmetzen Anweisung gab, die Arbeiter zum Akkord anzuhalten, während Jeanne hinter Klostermauern vermutlich verwelkte wie eine Blume in der Wüste.
Er seufzte. Einerseits wusste er, dass es keinen Sinn hatte, sich in Selbstmitleid zu ergehen, da die einzige Möglichkeit, Richards Gunst zu gewinnen, darin bestand, ihn durch Können und Loyalität zu beeindrucken. Niemals würde sein Halbbruder einem rückgratlosen Feigling einen Gefallen erweisen, geschweige denn einen Fehltritt verzeihen! Doch andererseits war die Leere in seinem Inneren so furchtbar und zersetzend, dass es manchmal beinahe zu verlockend wirkte, sich dem Schmerz hinzugeben und dadurch das hohle Gefühl zu vertreiben, das sich immer wieder seiner Seele zu bemächtigen schien. Mit einem leisen Laut des Missfallens über die eigene Schwäche zwang er sich, den Blick von dem Flusstal loszureißen. Als er den leicht abfallenden Hügel zum Zentrum des Areals hinabschritt, ließ ihn eine Bewegung den Kopf nach links wenden, wo er seinen Bruder Henry und dessen Liebhaber, Ludwig von Blois, erblickte. Da Robin of Loxley mit Gemahlin und Sohn beschäftigt war, hatte er Richards Vorschlag zugestimmt, auch Henry wegen seiner künstlerischen Expertise nach Les Andelys zu schicken. Denn Henry hatte nicht nur das dichterische Talent der Plantagenets mit in die Wiege gelegt bekommen, sondern auch ein unheimlich scharfes Auge für Formen, Farben und Linien. Soeben beugte er sich über eine der Steinmetzarbeiten, die später die Abschlusssteine der Torbögen zieren würden, und wies mit einem leichten Kopfschütteln auf eines der zweifellos unzähligen Details. »Gebt ihm etwas mehr Tiefe«, hörte Roland ihn vorschlagen. »Dann wirkt es lebendiger.« Dankbar für den Vorschlag, setzte der junge Handwerker den Dorn erneut an, während sich Henry zu Ludwig umwandte, um diesem ein Lächeln zu schenken.
Was für eine merkwürdige Familie er doch hatte!, dachte Roland – gegen seinen Willen erheitert. Sein Bruder liebte den Grund, aus dem Rolands Herzensdame in ein Kloster verbannt worden war. Und seine Mutter war mit dem Mann verheiratet, den Richard Löwenherz seit der katastrophalen Niederlage vor Aumâle beinahe noch mehr hasste als Philipp von Frankreich! Er lachte leise.
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