Im Reich der Löwin
Südflanke des Reiches wohl endgültig befriedet, doch erregte der störrische Walter von Rouen zunehmend seinen Unwillen. Glaubte dieser kleingeistige Pfaffe denn wirklich, er könnte gegen einen Plantagenet bestehen?!, fragte er sich grimmig, als er sich wenig elegant in den Sattel seines neuen Schlachtrosses zog, um die Prozession zu seinem Stadtpalast anzuführen. Er brauchte die gewaltige Burganlage, die er auf der hoch über Les Andelys gelegenen Felsklippe zu errichten gedachte, dringend. Und kein Bischof der Welt würde ihn davon abhalten können, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen! Als Kommandobasis und Trichter, durch den seine Truppen aus Rouen in die Sümpfe der östlichen Normandie geschleust werden konnten, war das zukünftige Château Gaillard unverzichtbar für den englischen Löwen. Diese mächtigste aller abendländischen Festungen würde die direkte Route nach Rouen und somit den Zugang zum Meer blockieren. Und die von Richard geplante Flotte von schnellen, wendigen Galeeren würde ein ausgefeiltes Netzwerk errichten, sodass sich die Seemacht der englischen Krone von Portsmouth über Rouen bis zur Seine erstreckte! Mit einer energischen Bewegung rammte er seinem Reittier die Fersen in die Flanken und preschte – ungeachtet der immer noch nicht völlig verheilten Verletzung seines Oberschenkels – nach Osten davon, um nicht zu spät zu dem Bankett zu kommen, das sein Bruder, John Lackland, organisiert hatte. Grimmig presste Löwenherz die Lippen aufeinander, als er an die Demütigung zurückdachte, die John ihm mit der Eroberung der Festung Gamaches bereitet hatte. Mit diesem einzigen Erfolg der katastrophal verlaufenen Sommerkampagne hatte ihm sein Bruder vor den Augen aller die Treue erwiesen. Doch kannte Richard den Jüngeren nur zu gut, um zu wissen, wie viel Genugtuung diesem die Niederlage des Königs bereitet haben musste. Auch um John würde er sich in absehbarer Zeit kümmern müssen! Wenngleich Richard nach der Flucht Arthurs immer noch Otto von Braunschweig als Thronerbe vorschwebte, zermürbten ihn die wiederholten Ermahnungen seiner Mutter mehr und mehr. Aber darüber konnte ein andermal nachgedacht werden!, dachte er mit einem Blick auf seinen Knappen, dessen Entwicklung einen der wenigen Lichtblicke der vergangenen Wochen darstellte. Wenn der Bursche so weitermachte, würde trotz aller gegenteiligen Befürchtungen noch ein brauchbarer Ritter aus ihm werden.
Die Normandie Les Andelys, Oktober 1196
Ein von den Fuhrleuten aufgeschreckter Bussard schraubte sich in einer majestätischen Kurve in die Höhe, wo er mit einem durchdringenden Schrei sein Missfallen über die Störung bekundete, die ihn aus seinem immer weiter schwindenden Jagdrevier vertrieben hatte. Während strahlender Sonnenschein die goldenen Farben des Laubwaldes am Fuße der Felsklippe feurig aufleuchten ließ, wand sich ein nicht abreißen wollender Zug aus Pferdegespannen die Straßen hinauf. Diese wirkten wie Wunden in den Hängen des mächtigen Felsplateaus, an dessen östlichem Steilhang Roland Plantagenet den Blick über die weitläufige Flusslandschaft tief unter sich gleiten ließ. Wie ein vielarmiges Fabelwesen wuchs die neue Stadt am Ufer der Seine, die Maurer, Schmiede, Korbmacher, Seiler, Töpfer, Architekten, Steinmetze, Zimmerleute und Soldaten beherbergte, in alle Himmelsrichtungen und schien das zu ihrer Linken liegende Dorf unaufhaltsam zu verschlucken. Trotz des kühlen Windes glänzten die unbekleideten Rücken der Arbeiter, die an der Innenseite der Flussbiegung tiefe Schützengräben zur Verteidigung der Baustelle zogen, in der Sonne. Und das Schlagen der Zimmermannshämmer trug meilenweit über das Tal. In seinem Rücken waren die Meistersteinmetze und Zimmerer damit beschäftigt, ihre Bodenplatten zu errichten, die ihnen im Laufe des Bauvorhabens zur Anfertigung geometrischer Zeichnungen dienen würden. Nach deren maßstabsgetreuem Vorbild würden dann die zu behauenden Steine oder Holzelemente angefertigt werden. Über dem dumpfen Schlagen der Fäustel und Dorne lag das hellere, durchdringendere Geräusch der Schmiedehämmer. Eine wahre Armee von Schmieden war damit beschäftigt, die von den Steinmetzen verschlissenen, verformten oder zerbrochenen Werkzeuge zu reparieren sowie die von den Zimmerleuten benötigten Nägel und Eisenelemente anzufertigen.
Voller Bewunderung registrierte Roland die enormen Fortschritte, welche der Bau der von Richard Löwenherz höchstpersönlich geplanten
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