Im Reich der Löwin
den hochlehnigen Stuhl sinken. Nachdem die Festung von Milli gefallen war, hatte Richard das nur vier Meilen von Gisors entfernte Dangu im Sturm genommen, um sofort danach auf französisches Gebiet vorzustoßen und Plünderer in das Umland von Paris auszuschicken. Mehrere Dörfer und Ansiedlungen waren bereits ein Raub der Flammen geworden, die Bewohner niedergemetzelt oder gefangen genommen. Und als ob diese Bedrohung durch die englischen Horden nicht genug wäre, schien nun auch noch Balduin von Flandern abtrünnig zu werden. Bereits drei Mal hatte Philipp den Grafen in den letzten beiden Wochen um Unterstützung gebeten und bereits drei Mal hatte Balduin ihn mit fadenscheinigen Entschuldigungen hingehalten.
»Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, war dieser ganze Krieg umsonst!«, grollte Philipp, dessen mitternachtsblaues Gewand deutliche Spuren der schlaflosen Nächte aufwies, die hinter ihm lagen. Auch der Glanz der mit Goldfäden eingewobenen Lilien schien unter der Anspannung des Königs gelitten zu haben, da auch diese stumpf und matt wirkten. Mit einer resignierten Bewegung strich er sich durchs Haar und funkelte die versammelten Barone herausfordernd an. In vielen der mehr oder weniger ausdruckslosen Mienen vermeinte er, nur schlecht verhohlene Unzufriedenheit lesen zu können. Obwohl die Barone der Champagne, der Perche und von Brienne, die Grafen von Guînes und St. Pol sowie Graf Renauld de Bologne ihm mit unterschwelligem Unwillen lauschten, so waren sie doch mit allen Sinnen bei der Sache. Was man von dem in einer Ecke des Raumes schnarchenden Arnauld de Touraine nicht behaupten konnte. Zusammengesackt hing der ehemalige Herr über die Touraine in einem der Stühle nahe der Feuerstelle – die Achseln über die Armlehnen drapiert, während das Kinn auf die von einem ehemals weißen Surkot bedeckte Brust fiel. Das strähnige, graubraune Haar des inzwischen beinahe fassrunden Generals klebte fettig an seinen Wangen. Diese hatten – ebenso wie die pockennarbig wirkende Nase – einen violetten Rotton angenommen, der sich von Tag zu Tag zu vertiefen schien. Die schlaffen Lippen des Fünfzigjährigen wurden lediglich von vier schwarzen Zahnstummeln davon abgehalten, wie bei einem Greis nach innen zu sacken. Und der rasselnde Atem verriet, dass er sein Ziel, sich zu Tode zu saufen, wohl bald erreicht haben würde. Es war ein Jammer, dachte Philipp halb bedauernd, halb zornig, dass die Zurückweisung einer Frau einen so begnadeten Feldherrn wie Arnauld de Touraine zu einem machtlosen, entmannten Schatten seiner selbst degradiert hatte! Unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung hielt er sich davon ab, auf den Grafen zuzustürmen und ihn mit einer schallenden Ohrfeige in die Gegenwart zurückzubefördern, da er wusste, wie wenig Sinn solch eine Geste hatte. Zu oft war er in den vergangenen Wochen bereits an Arnaulds Apathie gescheitert. Wenn sich die Dinge weiter so entwickelten, wie sie sich abzeichneten, dann würde einer seiner besten Generäle dem Wein erliegen. Während andere dem Beispiel des abtrünnigen Ludwig von Blois folgen würden, der sich im Lager des englischen Königs offensichtlich mit dessen Halbbruder vergnügte, wenn er nicht an der Seite des Erzfeindes der französischen Krone kämpfte! Mit einem unterdrückten Seufzen erhob sich der Franzose und stemmte die Handflächen auf die Tischplatte. »Lasst mich allein«, befahl er knapp, bevor er den Männern den Rücken zuwandte, um an eines der Fenster zu treten, die den Blick auf das fruchtbare Umland der Hauptstadt freigaben. Wenn Gott ihm doch nur ein Zeichen geben würde, dass er auf seiner Seite war!
Poitiers, Abtei Sainte-Croix, Mai 1197
»Ich muss zu ihm!” Verzweifelt kämpfte Catherine of Leicester gegen die Hände an, die sie davon abhielten, lediglich mit einem dünnen Bliaud bekleidet in den Klosterhof zu stürmen und eines der Pferde satteln zu lassen, um damit ohne Geleitschutz nach Château Gaillard aufzubrechen. »Was, wenn er stirbt?!« Schluchzend gab sie den Widerstand auf und brach in den Armen ihrer Freundinnen zusammen. Diese tauschten einen mitleidigen Blick aus, bevor sie die von Weinkrämpfen geschüttelte junge Frau behutsam auf eine schattige Laube zuführten und sie mit sanfter Gewalt auf eine Bank niederdrückten. Dann nahmen sie rechts und links von ihr Platz und ergriffen ihre kalten Hände. »Er wird nicht sterben«, tröstete Lady Marian und zog Catherines Kopf an ihre Schulter. »Du darfst dich nicht
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