Im Reich der Löwin
niemals ankommen«, stöhnte Henry Plantagenet, dessen Lippen vor Kälte eine bläuliche Färbung angenommen hatten, als er steif und ungelenk aus dem Sattel seines vor Nässe triefenden Halbponys glitt. Seine sonst so geschmeidigen Bewegungen wirkten wie die eines alten Mannes, und das kurze, rotblonde Haar klebte an seiner bleichen Stirn. Roland, der ebenso wie sein jüngerer Bruder den Auftrag erhalten hatte, sich um das Pferd seines Herrn zu kümmern, trat neben ihn und half ihm, den temperamentvollen Rapphengst Loxleys an einen der Holzbalken zu binden, die vor dem Stallgebäude angebracht waren. Immer noch peitschte ein eisiger Ostwind über das Land, und die bleigrauen Wolken schienen mit jeder Minute dunkler und bedrohlicher zu werden. Seit ihrem Aufbruch aus London hatte es unentwegt geregnet, gehagelt und gestürmt. Da die Stallungen sich direkt neben dem rechteckigen Torturm befanden, der in die äußere Vorburg der Festung von Winchester führte, hatten die Knaben die Herrin des Palastes noch nicht zu Gesicht bekommen. Was vermutlich auch so bleiben würde, da sie in dem angrenzenden, von dicken Fachwerkbalken gestützten Wohngebäude für die ritterlichen Dienstmannen Unterkunft nehmen würden. Die verwitwete Herzogin von Winchester hatte den hochgeborenen Gästen alle Annehmlichkeiten ihres Heimes, einschließlich eines Heeres von Bediensteten und Pagen, zur Verfügung gestellt, sodass die Knaben diesen Abend für sich hatten.
Unzählige Wachen hatten auf den Zinnen und Türmen Aufstellung genommen, da es nicht nur das Leben des Königs, sondern auch die in Nottingham und London aufgebrachten Gelder zu schützen gab. Um die leeren Kassen aufzufüllen, hatte ihr Halbbruder kurzerhand neue Land- und Besitzsteuern eingeführt sowie die führenden Amtsträger Englands ein weiteres Mal zur Kasse gebeten, ohne auf deren Proteste einzugehen. Direkt im Anschluss an das Konzil von Nottingham waren Eilboten nach Portsmouth aufgebrochen, um dort für die Zusammenziehung von Truppenverbänden und Schiffen zu sorgen, damit Richard Löwenherz sofort nach der erneuten Krönung nach Frankreich aufbrechen konnte. Nur noch knapp zwanzig Meilen trennten die Streitmacht des Königs von den steilen Kreidefelsen der englischen Küste, die seit Jahrtausenden der wütenden Brandung des Meeres trotzten. »Ich kann mich kaum mehr rühren«, jammerte Henry, nachdem er die Stalltür hinter sich zugezogen hatte und den schweren Sattel auf einen der Böcke fallen ließ. Stöhnend bückte er sich nach einer Handvoll Stroh, um das kostbare Streitross seines Herrn abzureiben. Das flache, von mehreren quer verlaufenden Boxengängen unterbrochene Hauptstallgebäude war von warmem Dämmerlicht erhellt, und das Flackern der Pechfackeln malte lange Schatten an die lehmverputzten Wände. An der östlichen Stirnseite prangte eine Nachbildung der Tischtafel König Arthurs, deren Original die Great Hall der Burg von Winchester zierte. Um die aus einer rot-weißen Blüte bestehende Mitte der kreisrunden Holzplatte zog sich ein schmaler, mit schnörkeligen Schriftzeichen versehener Ring, über dem die mit allen Insignien der Macht ausgestattete Figur des legendären Königs thronte. Sein roter Mantel war von hinten über die Knie der sitzenden Figur drapiert, während seine Rechte das sagenumwobene Schwert Excalibur umfasst hielt. Die grün und weiß unterteilten Felder der Tischplatte trugen Namen – soweit Roland es entziffern konnte – welche die Mitglieder der Tafelrunde bezeichneten.
Henry, der sämtliche Einzelheiten der alten Erzählungen auswendig kannte, starrte mit offenem Mund auf die verkleinerte Version der runden Tafel, während er minutenlang ein und dieselbe Stelle an der Hinterhand des Rappen polierte. Schließlich fasste er sich mit einem erneuten Stöhnen an die Brust und ließ sich auf einen der dicken Strohballen fallen, um sich die verkrampfte Schulter zu massieren. »Du hast Muskelkater, sonst nichts«, beruhigte ihn sein älterer Bruder, der sorgsam die Trense aus dem Maul seines Schutzbefohlenen nahm, um sie mit einem weichen Lederlappen abzureiben. »Das vergeht.« Das säuerliche Gesicht des Jüngeren ignorierend, bot er ihm die Rechte, zog ihn auf die Beine und drückte ihm ebenfalls ein Tuch und einen Hufkratzer in die Hand. Schweigend säuberten sie die Hufe der Tiere, kämmten die verfilzten Mähnen und rieben das vor Nässe stumpfe Fell, bis es im Fackelschein glänzte. Plötzlich riss sie das Schlagen der
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