Im Reich der Löwin
kitzelnden Staub, den die Gespanne der wohlhabenderen Leibeigenen aufwirbelten, und nur mit Mühe unterdrückte Berengaria ein Husten. Hoch über ihrem Kopf zog ein roter Milan warnend seine Kreise, der hin und wieder auf sein Nest niederstieß, um nach dem Rechten zu sehen. Das etwas kleinere Weibchen wartete stets, bis ihr Gefährte die mächtigen Schwingen geschlossen hatte, bevor es sich ebenfalls auf die Jagd nach aufgeschrecktem Kleingetier machte. Ein schwermütiges Volkslied drang an das Ohr der englischen Königin, als sie in die von Kletterpflanzen überrankte Laube in dem kleinen Gärtchen hinter dem Wohngebäude eintauchte. Dort wetteiferten Lorbeer, Efeu und Stechpalmenbüsche mit Rosen, Walderdbeeren und violetten Akeleien. Zielstrebig schritt sie auf einen starken blutroten Rosenstock zu, bog die mit spitzen Dornen übersäten Äste auseinander und wählte die schönsten Blüten aus. Nachdem sie die frisch geschnittenen Rosen sorgfältig in das eigens dafür vorgesehene, angefeuchtete Leinentuch eingeschlagen hatte, ließ sie die schwere Schere sinken und wischte sich die Stirn.
Wenngleich sie erst im dritten Monat schwanger war, fühlte sich ihr Körper schwerfällig und aufgedunsen an, und der von Ralph de Beaufort in die Burg geholte Bruder Anselm hatte ihr aufs Strengste befohlen, körperliche Anstrengungen zu vermeiden. Mit ihren neunundzwanzig Jahren war Berengaria spät gebärend, was bedeutete, dass die Entbindung nicht ohne Risiko sein würde. Als sie an all das Blut und die Qualen dachte, die auf sie zukommen würden, krampfte sich ihr Magen schmerzhaft zusammen, nur um im nächsten Augenblick vor Freude zu hüpfen, als sie Ralph über den kleinen Burghof auf sich zueilen sah. Wie immer spiegelte sich seine Kraft und Eleganz in den langen, federnden Schritten wider, und seine Augen leuchteten schelmisch, als er seine Geliebte in die Arme schloss, um sie mit einem leidenschaftlichen Kuss zu bedenken. Sein Gesicht roch nach Minze, da er sich nach der Rasur stets mit warmem Wasser einrieb, in dem ein Stängel des erfrischenden Krautes schwamm, und auf seinen Lippen lag noch ein Hauch des Honigs, mit dem er seinen Haferbrei süßte. »Diese Liebe zu dir«, murmelte Berengaria, die achtlos die Rosen fallen ließ, um sich an die Brust des Ritters zu schmiegen. »Manchmal macht sie mir beinahe Angst.« Zärtlich fuhr Ralph ihr durch die dunklen Locken und blickte ihr in die Augen. »Das braucht sie nicht«, flüsterte er. Doch bevor er etwas hinzufügen konnte, öffnete Berengaria wortlos den Mund und versteifte sich. Mit einem kleinen Aufschrei fuhr sie sich mit der Linken an den Unterleib und sackte in seinen Armen zusammen.
Die Normandie, vor den Toren der Festung Evreux, Ende Mai 1194
»Tötet jeden Einzelnen!« John Lacklands Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung, als sich die Tore der stark befestigten Stadt öffneten, um ihn und seine Truppen einzulassen. Die Köpfe der auf den Zinnen postierten Armbrustschützen waren auf ein Kommando des Oberwachhabenden hin verschwunden, als dieser den englischen Prinzen erkannt hatte. Und auch die drohend von dem mächtigen Torbogen auf sie herabglotzende, bronzene Pechnase war nach kurzem Zögern wieder eingezogen worden. Überall flatterte das blaue, mit gelben Königslilien geschmückte Banner Philipps von Frankreich im Nordwind. Doch das würde sich bald ändern, dachte Lackland hämisch. Wie einfach es gewesen war, die Wachposten davon zu überzeugen, dass er immer noch dem Lager Philipps angehörte! Er lachte leise. Beinahe wie einem Kind das Spielzeug zu entreißen! Während seine Männer von hinten an ihm vorbeipreschten, um die arglosen Einwohner des kleinen Ortes niederzumetzeln, riss er hart am Zügel seines tänzelnden Streitrosses und brüllte Mercadier – den Richard mit auf dieses als Belagerung geplante Unterfangen geschickt hatte – den Befehl zu, seine Männer zu besonderer Härte anzuhalten. »Es darf keiner überleben!«, kreischte er beinahe hysterisch. »Spießt die Köpfe der Garnisonsbesatzung auf und spickt die Zinnen damit!« Ein kaum merkliches Lächeln huschte über die raubtierhaften Züge des normannischen Söldnerführers, bevor er seinem Pferd die Sporen gab und sich ins Kampfgetümmel stürzte.
Das Schlachten dauerte keine zwei Stunden. Während die letzten Soldaten sich noch in den blutbesudelten Straßen an Frauen und Kindern vergingen, trabte John an der Seite des jungen Chronisten Richard of Devizes
Weitere Kostenlose Bücher