Im Reich der Löwin
Fußsoldaten auf die Armbrustschützen zujagte. Roland schwitzte. Die sengende Hitze ließ den Schweiß in Bächen seinen von einem schweren Kettenpanzer bedeckten Rücken hinabrinnen. Und während ihm das Salz in den Augen brannte, versuchte er, durch den Schleier der Furcht die Einzelheiten des sich schnell in ein chaotisches Getümmel verwandelnden Schlachtfeldes zu erkennen. Die Aufregung hatte seinen Mund ausgetrocknet, und die schwere Zunge klebte am Gaumen, während die Hand, mit der er die Waffe umklammerte, taub und gefühllos zu sein schien. Seit ihrem Gespräch vor zwei Wochen hatte der König sein Versprechen wahr gemacht und sich persönlich um die Waffenausbildung des Knaben gekümmert. Die Schwert- und Lanzenübungen waren verdreifacht worden, und der junge Mann hatte den Umgang mit Morgenstern und Streitaxt so lange perfektioniert, bis er selbst im Schlaf die Arme über dem Kopf geschwungen hatte.
Und doch waren diese Kämpfe stets ohne Blutvergießen abgelaufen. Wohingegen allein in den vergangenen Minuten Dutzende von Feinden enthauptet oder verstümmelt unter den schweren Hufen seines Schlachtrosses verschwunden waren. Als ein wütend schreiender Franzose mit gezückter Waffe auf ihn zurannte, hob Roland wie im Traum den Schwertarm und hieb ihm – ohne nachzudenken – in die Schulter, sodass diese mehrere Zoll tief aufklaffte. Bevor er sich von dem Schock erholen konnte, den ihm das Gefühl des in Fleisch eindringenden Stahls bereitete, musste er sich bereits eines weiteren Angreifers erwehren. Diesen konnte er nur dadurch davon abhalten, sein rechtes Bein zu durchbohren, indem er ihm den Schädel spaltete. Immer mehr Männer starben um ihn herum. Während er die in ihm aufwallende Übelkeit niederrang, hatte er alle Hände voll zu tun, nicht den Anschluss an seinen tollkühnen Halbbruder zu verlieren, der in der Nähe der Ringmauer das Banner seines verhassten Widersachers erspäht hatte.
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Nicht einmal eine halbe Stunde später hatte sich die Lage für die überrannten Franzosen derart verschlechtert, dass sich die ersten Kämpfer ergaben, um ihr nacktes Leben zu retten. Überall warfen Ritter und Fußsoldaten ihre Waffen auf den blutgetränkten Boden und sanken auf die Knie, um sich ihren Bezwingern auf Gnade und Ungnade auszuliefern. »Rückzug!«, brüllte der vor Wut puterrote Philipp von Frankreich, als er erkannte, dass sein Tross verloren war. »Blast sofort zum Rückzug!« Der neben ihm trabende Arnauld de Touraine, der sich seit dem Verlust seiner Gemahlin zu einem verbissenen Kämpfer entwickelt hatte, warf ihm einen verwirrten Blick zu, enthielt sich jedoch eines Kommentars. Mit einem brutalen Hieb über den Hals brachte der erzürnte französische König sein Pferd dazu, über den mit seichtem Brackwasser gefüllten Graben zu setzen, wo er einige wenige Atemzüge lang innehielt, um den auf ihn zupreschenden Richard Löwenherz ins Auge zu fassen. »Dieser verdammte Engländer«, fluchte er unfein, gab seinem General ein Zeichen und machte, dass er so viel Abstand wie möglich zwischen sich und seinen Angstgegner brachte. Wenn er Verneuil nicht haben konnte, dann würde er eben nach Rouen ziehen!
Deutschland, Speyer, Mai 1194
»Ihr solltet ein wenig besser auf Eure Worte achten«, warnte Kaiser Heinrich drohend, während er ärgerlich auf den vor ihm knienden Otto von Braunschweig hinabstarrte. Wie konnte es der unverschämte Flegel wagen, ihn – den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches – mit versteckten Vorwürfen zu konfrontieren?! Wusste der Bursche nicht, auf welch dünnem Eis er tanzte? Mit einer steilen Falte zwischen den Brauen beobachtete er, wie der junge Mann mit sichtlicher Mühe seinen Unwillen schluckte, den Kopf senkte und nach Worten suchte. Zwar stimmte es, dass das für ihn und seinen Bruder Wilhelm ausgesetzte Lösegeld inzwischen eingetroffen und zwischen Heinrich und Leopold von Österreich aufgeteilt worden war. Doch hatte der Kaiser keineswegs vor, die Trumpfkarte, die er mit den beiden Prinzen in der Hand hielt, so schnell aufzugeben. Noch fehlte ein beträchtlicher Teil der für den englischen König geforderten 100 000 Silbermark, und bevor diese Summe nicht die Truhen des Staufers füllte, würden die Welfen in seiner Obhut bleiben. Sollte Richard Löwenherz gegen diese Maßnahme Protest einlegen, dann würde Heinrich subtil, aber unmissverständlich darauf hinweisen, dass sich schließlich noch andere Männer in seiner Gewalt
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